Zwischen Therapie und Kostümball

Siegfried Wagners "Sonnenflammen" in Bayreuth: Antike prallt auf Ramsch, Comedy auf Genie

17.08.2020 | Stand 02.12.2020, 10:44 Uhr
Byzantinische Partymeile: Viel Applaus gab es für die Inszenierung von "Sonnenflammen". −Foto: Teichfischer

Bayreuth - Ohne Festspiele bietet die Bayreuther Innenstadt in diesem Sommer ein ungewohnt tiefenentspanntes Bild.

Und es gibt sogar ganz großes Wagner-Drama: Allerdings nicht "Götterdämmerung" auf dem Grünen Hügel, sondern die fast genauso spektakuläre Apokalypse "Sonnenflammen" von Richard Wagners einzigem Sohn Siegfried (1869-1930). Das auf den zweiten Dichterkomponisten der Familie spezialisierte pianopianissimo-musiktheater realisierte mit tollkühnem Mut und einem digitalen Orchester zwei Vorstellungen des Musikdramas "Sonnenflammen", Siegfried Wagners opus 8.

Nach starken Anfangserfolgen konnten sich die Opern des Festspielleiters und Großvaters von Katharina Wagner nicht behaupten. Dabei enthalten Siegfrieds Opern - zum Beispiel "Der Bärenhäuter", "Schwarzschwanenreich" oder "Die heilige Linde" - interessante Sujets und biografische wie zeitgeschichtliche Bezugspunkte. Jetzt schaut es aber danach aus, als würden sich die kleinen Siegfried-Wagner-Festspiele im Schatten der großen Richard-Wagner-Festspiele Bayreuths konsolidieren - ab 2023 in der dann nach gründlicher Restaurierung wieder eröffneten Stadthalle.

In Bayreuth gab es die erste szenische Aufführung von "Sonnenflammen" des 1912 vollendeten und 1918 in Darmstadt uraufgeführten Werks seit dem Zweiten Weltkrieg. Mit intelligenter Verspieltheit, gekonnter Selbstironie und der Liebe des Enthusiasten näherte sich Peter P. Pachl dem von Siegfried in Vater Richards Manier getexteten und vertonten Opus. Und sinnig verortete er es im ehemaligen Kino Reichshof, wo Siegfried mit seiner Ehefrau Winifred oder Freunden möglicherweise den ein oder anderen Film gesehen hatte.

Bei Pachl verhalten sich alle Figuren, als seien sie ständig auf dem Sprung zwischen Verhaltenstherapie und Kostümball. Ein karnevalesker Theatercoup sind Christian Bruns' Kostüme. Antike prallt auf Ramsch, Comedy auf Genie. Hinter bunten Stäben treibt Robert Pflanz Videospots in den Geschwindigkeitsrausch. Schließlich gehen alle unter Atompilz und Atemmaske zugrunde. Dieses Stage Design wirkt klug in seiner improvisierten Unfertigkeit und legitimiert die empfindliche Schmälerung von Siegfrieds Orchestersound durch die digitale Konserve von Ulrich Leykam. Das geschmeidige Reaktionsvermögen "echter" Musiker ist allerdings durch nichts zu ersetzen.

Toll treiben es die alten Byzantiner und die alten Franken. Geschlechtsverkehr wird in "Sonnenflammen" allerdings häufiger zerredet als ausgeübt. Wenn es doch zu Paarungen kommt, vollziehen sich diese in Lieblosigkeit oder nach Betrug. Die byzantinische Partymeile ist trotzdem so aufgesext, wie man sich das als Leser von "Ein Kampf um Rom" oder "Quo vadis" vorstellt. Am besten versteht man noch Kaiserin Irene (Rebecca Broberg), die sich mit ihrem behinderten Sohn umbringt und als Geist pünktlich zur Menschheitsdämmerung wiederkehrt. Den Kreuzfahrer Fridolin - sicher kein Selbstporträt Siegfried Wagners - treibt es wegen außerehelicher Seitensprung-Zwischenfälle nach Byzanz. Fridolins neue Auserwählte Iris (Julia Reznik) kann Männer aber nur aus räumlicher Distanz begehren. Deshalb schiebt sie dem an durch Reizüberflutung verursachter Bildungsferne leidenden Kaiser Alexios, den Uli Bützer als fast liebenswerten Hurrikan charakterisiert, ihre Freundin als Liebesgespielin zu. Westliche Truppenbewegungen und nahöstliche Feierlaune bringen das Problemfass zum Überlaufen. Fridolin stirbt an symbolischem Sonnenstich und äußerst beeindruckend, weil Giorgio Valenta mit guter Gesangsschulung durch alle Tücken der Partie rudert und aussieht wie ein verlotterter Drachentöter.

Pachls Inszenierung hat etwas von dem schrillen Spleen, mit dem die Studiobühne Bayreuth vor einigen Jahrzehnten ins überregionale Gerede kam. Bis jetzt ist dieser obsessive Geist, die Lust an provokativer Maskerade und durchtriebener Pseudonaivität also lebendig. Liebhaber gut abgehangener Opernschinken kommen bei dieser Inszenierung wenig und noch weniger mit Siegfried Wagners Opus 8 selbst auf ihre Kosten.

Bevor die Handlungskarre endgültig im apokalyptischen Schlamm steckt, setzt der Bayreuther Dichterkomponist Nr. 2 mehrere umgangssprachliche Wendungen oder schlichte Musikgesten, die alles ein bisschen weniger schlimm erscheinen lassen. So gelingt Siegfried ein Fluchtpunkt aus dem raunenden Dampf des Nach-Wagnerschen Musikdramas. Das zeigt sich auch an der Figur des Narren Gomella, den sich William Wallace und Dirk Mestmacher nach dem Tod von Johannes Föttinger untereinander aufteilten. Dieser androgyne Spottvogel in Feinstrumpfhose ist gefährlich und deshalb so spannend wie Mime oder Herodes. Starker Applaus für diesen wunderbaren Mix aus großer Oper und Off-Theater. Bis zum 29. August wird in der Bayreuther RW21 Galerie eine Ausstellung zu dieser Oper und ihrer Symbolik gezeigt.

DK