Fulda
Zwischen Orient und Okzident

Fuldaer Erfolgsmusical "Der Medicus" gastiert im November im Deutschen Theater in München<?ZE>

09.08.2018 | Stand 23.09.2023, 4:21 Uhr
Die Musicaladaption vom Noah Gordons Bestseller "Der Medicus" feierte 2016 eine umjubelte Welturaufführung in Fulda. Im November ist das Epos in München zu sehen. −Foto: Foto: Spotlight Musicals

Fulda (DK) Wie viele Ideen verpuffen nach dem Satz "Man sollte mal?"? Und manchmal klappt es dann doch. Vor 15 Jahren fanden zwei junge Musiker, abgebrochene Studenten und völlig unbeleckte Idealisten: Man sollte mal ein Musical schreiben mit einem historischen Stoff und das dann am Originalschauplatz aufführen.

 Weil Peter Scholz und Dennis Martin in Fulda zu Hause sind, und "völlig blauäugig" waren, gingen sie mit der Naivität des Quereinsteigers auf die Suche nach kompetenten Partnern. Sie nahmen Kontakt zur Stadtspitze auf, mieteten das sonst mit Gastspielen betriebene Schlosstheater für die Sommerpause an und brachten den Intendanten der nahen Hersfelder Festspiele, Peter Lotschak, dazu, sich für ihre Pläne einzusetzen.

Und dann, 2004, wurde es wahr. Sie produzierten ein selbstgeschriebenes und -komponiertes Musical über den in Fulda beigesetzten Lokalheiligen Bonifatius. Vielleicht war das Ganze ja auch ein gut katholisches Wunder: Sie gingen nicht pleite, sondern begeisterten ihr Publikum, das ihnen seither treu blieb. Inzwischen können die beiden immer noch jugendlich wirkenden Produzenten auf sechs gemeinsame Musicals und über 1000 Vorstellungen an acht Orten zurückblicken. Für die jährliche Saison von drei Monaten gibt es jeweils 50000 Tickets, und meistens spielt man vor ausverkauftem Haus. Wenn das Siegel "Spotlight Musicals" auf einem Spielplan steht, schnurrt der Vorverkauf, busseweise fahren die Zuschauer in Fulda vor.

In diesem Herbst gastiert das Fuldaer Erfolgsstück aus dem Jahr 2016 "Der Medicus" in München im Deutschen Theater. Die Rechte an Noah Gordons historischem Roman zu bekommen, war schon mal ein Coup. Die ganze Familie des Autors saß da mit am Tisch im dem edlen Altenheim nahe Boston, wo Gordon im Alter von 91 Jahren lebt, als Peter Scholz das Projekt vorstellte.

Der "Medicus" ist ein Bestseller - fast überall auf der Welt, außer in Amerika. Als Zufallsfund des Verlegers Carl Blessing hat das Buch 1987 vor allem im deutschsprachigen Markt gezündet, und so war die Vergabe der Musicalrechte an eine deutsche Produktionsfirma für die Familie wohl folgerichtig. Das Musical, welches in Fulda derzeit wieder aufgeführt wird, hat den dicken Wälzer klug gestrafft und ist bereit, etwas zu riskieren. So würde man wahrscheinlich als Broadway-Autor kaum Fürsprecher für die Idee finden, dass die Autopsie einer Frauenleiche den dramatischen Höhepunkt eines Theaterabends bilden soll. Erzählt wird im Musical die Geschichte des Rob Cole, angesiedelt im 11. Jahrhundert. Nach dem Tod seiner Mutter an der "Seitenkrankheit", also einer Blinddarmentzündung, empfindet der Junge die starke Berufung, sich zum Arzt auszubilden. Unter vielen Mühen und als Jude verkleidet reist er dazu nach Persien in die sagenumwobene Stadt Isfahan. Durch jene mit der Todesstrafe belegte heimliche Autopsie erringt er Kenntnisse über die Anatomie des Menschen und die Ursache der Seitenkrankheit. Sein erworbenes Wissen kann er zwar nicht ausüben, doch zumindest für eine aufgeklärtere Nachwelt bewahren.

Auf der Bühne wird diese Geschichte zunächst ziemlich im Schweinsgalopp erzählt, um Zeit für die dramatische Essenz zu gewinnen, welche heute aktueller denn je ist: das Mit- und Nebeneinander der Kulturen, den Begriff der Heimat, das beharrliche Erstreben des scheinbar Unerreichbaren. Die opulente Ausstattung beeindruckt genauso wie die modernen, klugen Choreografien von Kim Duddy, dazu überzeugt eine absolut eingängige und facettenreiche Musiksprache von Operette bis Dudelsack, vom romantischen Lovesong bis zum orientalischen Klangteppich oder rockigen Balladen.

Die Produzenten aus Fulda haben sich im Laufe der Jahre immer weiter professionalisiert, haben sich für Musik und Texte, für Arrangements, Bühne, Kostüme und Sounddesign immer wieder Menschen ins Boot geholt, die ihren Job wirklich gut verstehen und sind offen für ein Work-in-Progress-Vorgehen, damit ihre Inszenierungen nicht einstauben. "Wir sind kritisch mit unseren Stücken und wissen immer, dass sie noch entwicklungsfähig sind", stellt Komponist Dennis Martin klar. Hier ist man als Selbermacher gegenüber den großen amerikanischen oder britischen Musicals klar im Vorteil, deren Rechte ja immer nur unter der Einhaltung komplizierter Vorgaben hinsichtlich der Aufführung vergeben werden.

Arbeit genug macht so eine Eigenproduktion aber natürlich auch und beschäftigt inzwischen einen beachtlichen festen Mitarbeiterstab von über 40 Menschen. Wie gut, dass der drahtige Produzent Peter Scholz Energie für mindestens drei in die Wiege gelegt bekommen hat und grundsätzlich positiv denkt. So kann er auch mal mit der Unsicherheit klarkommen, dass die Stoffe für Kostüme, die 10000 gekostet haben, von einem "Achmed aus Marokko" spendiert werden, mit dem es leider keinen Vertrag gibt. Umso schöner, wenn dann tatsächlich der ersehnte Anruf kommt: "Hier ist eine Lieferung, kommt ihr sie abholen? " Das Improvisieren und Weiterarbeiten gehört für Scholz immer dazu. "In Fulda müssen wir aus kaufmännischen und baulichen Gründen beispielsweise darauf verzichten, mit Liveorchester zu spielen, aber wir haben uns wirklich sehr große Mühe bei der Einspielung des Playbacks gegeben, beispielsweise die Sounds für die Keyboards speziell programmieren lassen. In München werden wir nun mit einem Orchester von 13 Musikern und einer Dirigentin anreisen, worauf wir uns schon sehr freuen. Auch hierfür wird natürlich die Partitur wieder angepasst, wir sind eigentlich nie fertig! ", erzählt er. Für eine Tourneeproduktion muss das ganze Ensemble extrem flexibel sein, so wird sich der technische Leiter Maik Walter wohl etwas einfallen lassen, wie er die riesige, mit einem Orientteppich überzogene Showtreppe aus Fulda in München so auf die Bühne bringt, dass er auch noch die anderen Auf- und Abbauten realisieren kann. "Das wird wie Bauklötze einräumen", grinst er und schaut auf den riesigen, echt historischen Holzkarren, auf dem der Medicus seine mobile Praxis durch die englischen Dörfer zieht.

Die Sänger hingegen bekommen statt dem gewohnten Klicken im Ohr, welches ihnen den Takt vorgibt, und einem virtuellen Dirigenten am Bildschirm nun ein echtes Dirigat - was Hauptdarsteller Patrick Stanke sehr freut. Für ihn als ehemaligen Studenten an der Everding-Akademie ist München zudem ein Heimspiel. "Sogar wenn du ein Timingmonster bist und immer genau auf das Underscore singen kannst, darfst du dir bei Playback einfach nicht den kleinsten Hänger erlauben, auch nicht im Text. "

Der Wuppertaler hat den Medicus innerhalb von nur fünf Tagen einstudiert, um ihn vor der Münchner Premiere schon einmal in Fulda singen zu können. "Das war brutal, ich habe normalerweise für so eine große Rolle vier bis sechs Wochen Zeit", resümiert er am Tag nach seinem Debüt sichtlich erschöpft. "Heute bin ich echt auf Drogen, dass das geklappt hat! " Bis auf einen lustigen Versprecher "Der Knochen ist gebröchelt" - statt "Der Knöchel ist gebrochen" - ist aber alles gut gegangen. "Das geht nur, weil die Kollegen einen total mittragen. Ich hab mir teilweise selbst zugeschaut und mich über mich gewundert", schüttelt der Sänger den Kopf. "Bei so einer großen Rolle darfst du dich nie fragen, ,Was kommt eigentlich jetzt? ', denn du bist ja fast ständig auf der Bühne! "

Sein Kollege Reinhard Brussmann, der das Fuldaer Musicalwunder schon vom ersten Jahr an, damals als Sänger des Bonifatius, begleitet, sitzt lächelnd daneben. Er spielt im "Medicus" den Ibn Sina, einen weisen, alten Arzt, der sich selbst opfert, um Rob Cole die Flucht aus Persien zu ermöglichen. "Ich bin hier im Sommer einfach unheimlich gern", sagt der Österreicher mit Blick auf den Barockgarten. "Außerdem liebe ich dieses Musical, einen historischen Stoff, der musikalisch unglaublich offen behandelt wird und was zum Nachdenken, nicht unbedingt zum Durchklatschen ist. Was die Jungs hier auf die Beine gestellt haben, nötigt mir wirklich Respekt ab. "

Sabine Busch-Frank