"Wir wollen Brecht vom Sockel holen"

Von 14. bis 23. Februar findet das Augsburger Brechtfestival statt - mit Theater, Konzerten und Spektakeln in prominenter Besetzung

07.02.2020 | Stand 02.12.2020, 12:01 Uhr
Neuer Blick auf Brecht: Jürgen Kuttner. −Foto: Löblein

Augsburg - "Die Zeiten sind wieder brechtischer geworden", meint der Berliner Regisseur, Radiomoderator und Kulturwissenschaftler Jürgen Kuttner, der mit seinem Kollegen Tom Kühnel die künstlerische Leitung des Brechtfestivals innehat.

Von 14. bis 23. Februar erlebt man in Augsburg Experimentelles, Theatrales, Musikalisches, Cineastisches von und über Brecht. Neben der lokalen Kulturszene finden sich prominente Namen im Programm: Lars Eidinger, Maren Eggert, Gisbert zu Knyphausen oder The Notwist. Mittendrin, am 18. Februar, wird der Brecht-Preis an Sibylle Berg verliehen. Wie macht man eigentlich so ein Festival? Fragen an Jürgen Kuttner.

Herr Kuttner, können Sie sich an Ihre erste Begegnung mit Brecht erinnern?

Jürgen Kuttner: Nicht so richtig. Das wird sicher in der Schule gewesen sein. Vielleicht war es auch durch ein Kinderbuch mit Gedichten der Art "Pfingsten sind die Geschenke am geringsten, während Ostern, Geburtstag und Weihnachten was einbrachten".

Was liegt Ihnen denn eher - die Stücke oder die Gedichte?
Kuttner: Das ist keine Entweder-Oder-Entscheidung. Das sind verschiedene Genres. Als Theatermensch interessiert man sich natürlich für die Stücke. In meiner Zusammenarbeit mit Tom Kühnel haben es uns besonders die etwas unbeachteten Lehrstücke angetan, die gerade eine Renaissance erleben. Aber die Lyrik ist natürlich großartig und übt immer eine große Faszination aus: Über lange Zeit haben mich die Lieder aus der Hauspostille begleitet, die frühen Songs, die Ballade von den Abenteurern, die Ballade von den Seeräubern, die Stücke aus der Dreigroschenoper, aber auch das großartige "An die Nachgeborenenen".

Was qualifiziert Sie und Tom Kühnel als Leiter eines Brecht-Festivals?
Kuttner: (Lacht. ) Weiß ich nicht. Wir wurden angesprochen und fanden die Aufgabe ausgesprochen reizvoll. Ein Anlass, sich noch mal intensiver mit Brecht zu beschäftigen und neue Ideen zu realisieren. Wir begreifen diesen Job nämlich nicht als Kuratorenjob. Kurator im Sinne eines Brecht-Verwesers: Man fährt durch die Lande und kauft schöne, erfolgreiche Inszenierungen für Augsburg ein. Wir verstehen uns als Künstler und haben deshalb versucht, Projekte anzuregen bei Leuten, die wir kennen und schätzen. Also haben wir beispielsweise Charly Hübner gefragt, ob er sich vorstellen könnte, den "Herrnburger Bericht" zu machen, Milan Peschel wird sich mit Baal und Fatzer auseinandersetzen, Martin Wuttke trägt Teile aus dem "Schnittchenkauf" von Rene Pollesch vor - eine künstlerische Auseinandersetzung mit Brechts "Messingkauf" - und Corinna Harfouch und die Tentakel von Delphi nehmen sich Brechts Exilgedichte vor.

Was hat es denn mit der "Lehrstückzentrale" auf sich?
Kuttner: Wir fanden die Idee sehr brechtisch, denn sie bietet eine andere Form von Realitätsrückkoppelung: Wir haben den russischen Regisseur Oleg Eremin und die amerikanische Regisseurin Alice Bever gefragt, ob sie sich vorstellen könnten, per Skype über Videoconferencing mit den zwei Augsburger Off-Theater-Gruppen Bluespots Production und theter ein Stück zu realisieren. Die Probenarbeit findet also quasi im Netz statt. Mit Englisch als gemeinsamer Verständigungssprache. Die "Lehrstückzentrale" verhandelt Brechts "Die Horatier und die Kuratier" und Heiner Müllers "Horatier" und gewährt einen russischen und einen amerikanischen Blick auf die Stücke. Das waren einfach so Ideen, die uns interessierten. Nicht auf Nummer sicher gehen. Wer sich mit Brecht beschäftigt, ist dem Experiment ja geradzu verpflichtet.

Das Motto heißt: "Er ist vernünftig, jeder versteht ihn. " Das müssen Sie erklären.
Kuttner: Was muss man da erklären? Wir wollen Brecht vom Sockel holen. Wir wollen einen Brecht für alle. Einen Brecht, den jeder versteht. Einen Brecht, der Spaß macht.

Es gibt zwei "Spektakel" mit hochkarätiger Besetzung. Wie locken Sie eigentlich Stars wie Lars Eidinger, Corinna Harfouch oder Charly Hübner nach Augsburg?
Kuttner: Mit Neugier. Hier bekommen sie nicht viel Geld. Aber wir haben mit allen schon gearbeitet und sie haben sich anstecken lassen von unseren Ideen. Hier haben sie die Chance etwas auszuprobieren. Wir machen das unter der Überschrift "Hit and run" - hinknallen und wieder abhauen. Keine sechs Wochen Proben mit einem kompletten Produktionsteam, sondern eher: Hier hast du einen interessanten Text, mach was draus. Und alle haben Feuer gefangen.

Und wieso "Spektakel"?
Kuttner: Brecht - Schullektüre, tot, Klassiker: Da tritt schnell so eine Vergipsung ein. Dann hat man diesen Brecht mit dem erhobenen Zeigefinger, der die gesellschaftlichen Verhältnisse anprangert. Und man vergisst völlig, dass er im Herzen auch ein Punker war. Als er in Augsburg durch die Kneipen gezogen ist und seine Songs gesungen hat, mit Karl Valentin zusammen Quatsch gemacht hat, mit Charlie Chaplin befreundet war. Wir wollten auch diese seltsamen Trennungen im Publikum aufbrechen - ernsthafte Theaterabonnenten um die 50 hier, jugendliche Popfraktion dort. Deshalb haben wir uns für einen Jahrmarkt entschieden, da treffen sich Opa und Enkelin, das geht wild durcheinander. Bei den großen Spektakeln im Martini-Park findet auf der Großen Bühne was statt, vor dem Haus, auf den Probebühnen, im Treppenhausfoyer, im Chorsaal und alles möglichst gleichzeitig. Niemand wird alles sehen. Auch wir nicht. Das gehört dazu.

Das Programmheft hat die Anmutung eines Groschenheft-Romans. Warum?
Kuttner: Weil die Aufmachung neugierig macht. Wenn da eine wilde Amazone im tief ausgeschnittenen Kleid eine Knarre in der Hand hält, überrascht das zunächst mal. Leute, die sich ein bisschen Gedanken machen, erkennen vielleicht die Seeräuber-Jenny aus der "Dreigroschenoper" wieder. Oder assoziieren mit dieser pulphaften Anmutung eine bestimmte Form der Unterhaltung - wie im 40er-Jahre-Krimi mit großen Schlagschatten und schief stehenden Häuserwänden. Ein bisschen von dieser Faszination, der ja Brecht auch unterlag. Als Brecht und Eisler in den USA im Exil waren, schlichen sie oft ins Kino, sahen sich irgendwelche Krimis an und nannten das "soziale Studien treiben". Außerdem: Das berühmteste Werk von Brecht ist die "Dreigroschenoper". Also legen wir ein "Dreigroschenheft" als Programm vor. Es macht einfach Spaß, darin zu blättern.

Haben Sie eigentlich mal geguckt, was Ihre Vorgänger für Festivals gemacht haben?
Kuttner: Wir waren im letzten Jahr in Augsburg, als Patrick Wengenroth Festivalleiter war und haben uns einige Veranstaltungen angeschaut. Sein Ansatz war dezitiert politischer. Das war spannend. Aber wir machen was anderes. Wir wollten an diesen roughen, wilden, etwas unberechenbaren, unterhaltsamen Brecht ran.

Was hat uns Brecht heute zu sagen?
Kuttner: In gewisser Weise wird Brecht wieder aktueller. Vor 20, 30 Jahren hätte man vielleicht noch mit Blick auf "Arturo Ui" oder "Der gute Mensch von Sezuan" gesagt, diese überschaubaren politischen und gesellschaftlichen Klassenverhältnisse sind vorbei. Aber ich finde nicht, dass man daran arbeiten muss, Brecht auf die Zeit zu bringen, sondern dass sich unsere Zeit dem Brecht annähert, dass die Verhältnisse sich in einer Art und Weise verändern, dass Brecht wieder aktueller wird. Schauen Sie sich Trump an, schauen Sie sich den Bankenkrach 2008 an, das sind totale Brecht-Themen.

DK

Die Fragen stellte Anja Witzke.

AUSZUG AUS DEM FESTIVALPROGRAMM

Die Lange Brechtnacht konzentriert sich heuer erstmals auf einen Ort. Im Kongress am Park spielen am 15. Februar auf drei Bühnen The Notwist, Fatoni, Gisbert zu Knyphausen, Voodoo Jürgens, Shari Vari und Banda Internationale feat. Bernadette La Hengst. Die Band The Cold War mit Augsburger Künstlern formiert sich exklusiv für das Brechtfestival. Es gibt zwei Spektakel im Martini-Park (14. Februar, ab 18.30 Uhr, 22. Februar, ab 16.30 Uhr) mit prominenter Besetzung. Am Eröffnungsabend am 14. Februar ist das Schauspiel Hannover zu Gast. "Svejk/Schwejk! " am 21. Februar ist in mehrsprachiger Zusammenarbeit mit den Städtischen Bühnen Prag und dem Staatstheater Augsburg unter der Regie von Armin Petras entstanden. Mit "Kosmos Heiner Müller" präsentiert das Festival von 18. bis 21. Februar eine Reihe ausgewählter Hörspiele im S-Planetarium. Und im Liliom läuft die Filmreihe "Von Hollywood nach Buckow". Alle Informationen unter brechtfestival. de.

DK