"Wir brauchen Theater so dringend wie nie zuvor"

20.04.2020 | Stand 02.12.2020, 11:31 Uhr
Intendant Knut Weber will die geplante Spielzeit 2020/21 um ein Jahr verschieben und sich für die nächste Saison neue Formate ausdenken. −Foto: Stadttheater

Wie geht es weiter am Stadttheater Ingolstadt? Die bayerische Staatsregierung kann derzeit noch keine definitiven Aussagen über ein Wieder-Anlaufen des Theaterbetriebs machen. Gestern informierte Intendant Knut Weber seine Mitarbeiter über die Planungen zur laufenden und nächsten Spielzeit. Er setzt auf Improvisation, Erfindungsreichtum und neue Formate.

Herr Weber, sind Sie im Theater oder machen Sie Homeoffice?

Knut Weber: Ich bin jeden Tag im Theater, arbeite aber auch im Homeoffice. Die Abteilungen, Gewerke und das Künstlerische Betriebsbüro sind analog im Haus. Auch wenn wir den Betrieb runtergefahren haben: Reparaturarbeiten müssen erledigt, die Bühnenbilder für die begonnenen Projekte fertig gestellt werden. Die Dramaturgie befindet sich im Homeoffice. Auch die Schauspieler, die ja weder spielen noch proben dürfen, sind zu Hause, halten sich fit, bereiten Rollen vor. Es gibt genügend zu tun - und das wird schätzungsweise bis Ende Mai noch so sein. Wenn sich bis dann keine neue Perspektive entwickelt, droht Kurzarbeit.

Wir haben uns alle auf das Ende der Osterferien und den Neustart des Stadttheaters gefreut. Stattdessen bleiben die Schulen zu - und das Kulturleben liegt darnieder. Keiner kann sagen, wie lange dieser Zustand dauert. Wie geht es denn jetzt mit dem Stadttheater weiter?

Weber: Als der Proben- und Spielbetrieb eingestellt werden musste, waren wir alle in Schockstarre gefangen. Diese Schockstarre löst sich jetzt langsam auf. Wir prüfen mögliche Optionen. Ich glaube nicht, dass wir in dieser Saison das Freilichttheater realisieren können, aber wir überlegen uns natürlich, wie ein Spielzeitstart aussehen könnte. Im besten Fall können wir vorproben, und der Spielplan findet statt wie geplant. Aber ehrlich gesagt, glaube ich nicht daran.

Ist diese Spielzeit überhaupt noch zu retten?

Weber: Definitiv nicht. Wir behelfen uns mit dem Online-Video-Magazin "Herzblut", das unser Ensemble mit eigenen kreativen Beiträgen bestückt - vom Kuchenrezept bis zum mittlerweile sogar preisgekrönten Papiermärchen. Daran sieht man die Fantasie und den Charme unserer Schauspieler. Aber man sieht auch, was fehlt - nämlich das analoge Theatererlebnis. Das schaffen wir in dieser Spielzeit nicht mehr. Aber immerhin werden wir die Premiere von Teresa Trauths Liederabend im Mai digital feiern. Und wir werden bestimmte Formate wie die Literalounge und "Jazz und Literatur" in digitalisierter Form präsentieren.

Das Junge Theater hat ebenfalls angekündigt, seinen "Sommernachtstraum" zu streamen.

Weber: Ja, aber nicht live. Premiere war bereits im Oktober. Wir zeigen einen Mitschnitt. Wir haben seit dieser Spielzeit eine Firma beauftragt, professionelle Werbeclips der Inszenierungen zu schaffen. Dafür wird die ganze Inszenierung aufgezeichnet. Das wurde jetzt nochmal bearbeitet und soll am 1. Mai gezeigt werden.

Haben Sie bei Ihren Plänen für eine Exitstrategie überhaupt Entscheidungsspielraum? Oder gibt es klare Direktiven aus dem Ministerium oder der Stadt?

Weber: Natürlich muss alles, was wir tun, mit dem Pandemiestab der Stadt abgestimmt sein. Die Planungen für die nächste Spielzeit habe ich mit Kulturreferent Gabriel Engert abgestimmt. Wenn es um konkrete Aufführungsformate geht, muss der Pandemierat zustimmen. Aber eine größere finanzielle und moralische Unterstützung durch die Politik würde ich mir schon wünschen.

Kommunizieren Sie eigentlich mit anderen Theatern? Tauscht man sich aus?

Weber: Ja, das ist wirklich eine sehr schöne Erfahrung, dass der Kontakt unter den Intendanten gerade in Bayern, aber auch darüberhinaus, sehr intensiv ist. Da geht es zum einen um Solidarität, zum anderen kann man durchaus voneinander profitieren. Aber natürlich hat ein Landestheater andere Probleme als ein Stadttheater oder gar ein Staatstheater. Da muss man lokale Lösungen finden.

Und wie sehen die für das Stadttheater Ingolstadt aus?

Weber: Angesichts der Unsicherheit, wann und wie es überhaupt weitergeht am Theater, möchte ich die geplante Spielzeit 2020/21 komplett um ein Jahr verschieben. Ich glaube nicht daran, dass der Spielplan so zu halten ist. Und wenn man sich Stück für Stück ins Jahr hineintastet und eine Produktion nach der anderen wegbröckelt, kostet das nur Nerven. Deshalb finde ich einen klaren Schnitt sinnvoll. Die Verabredung mit den Regisseuren bleibt bestehen. Die Abonnements sollen für ein Jahr ruhen. Das Abo im Dutzend ist eine wunderbare Option, auch in einer improvisierten Spielzeit mit vermutlich reduziertem Platzangebot einen sicheren Theaterplatz zu haben. Wir bitten unsere zahlreichen Abonnenten, ihr Abo so lange ruhen zu lassen, bis wieder ein normaler Spielbetrieb möglich ist. Solange das Abo ruht, wird natürlich kein Geld abgebucht. Es wäre aber ein großes Zeichen von Solidarität mit dem Stadttheater, denn gerade jetzt brauchen wir Unterstützung durch das Publikum.

Was heißt eine "improvisierte Spielzeit" konkret?

Weber: Wenn wir eingeschränkt wieder spielen dürfen, müssen wir über Formate nachdenken, bei denen nicht nur für die Zuschauer, sondern auch für die Schauspieler die Hygieneregeln eingehalten und die Sicherheitsabstände gewahrt werden. Das Publikum braucht mehr Platz. Wir müssen vermutlich Reihen sperren, so dass man im Großen Haus auf eine Zuschauerzahl von 250 bis 300 kommen würde. Und für diese Aufführungsformate müssen wir uns jetzt Stücke und Inhalte überlegen. Wir wollen an allen Regieteams festhalten, die bei uns arbeiten wollen. Wir würden Formate für alle Spielstätten erfinden. Neue ästhetische Formen sollen ausprobiert werden, das Verhältnis von Live-Performance und Videokunst muss man neu denken. Ehrlich gesagt, finde ich das auch sehr reizvoll. Mein Dramaturgenherz schlägt. Denn man kann viel erfinden und neue Fantasieprozesse in Gang setzen. Allerdings wird das Studio bis auf Weiteres vermutlich geschlossen bleiben müssen. Wir werden in dieser Woche eine Flugschrift herausgeben, wo wir das Publikum auf den neusten Stand der Dinge bringen.

Gerade das Kinder- und Jugendtheater boomt ja. Leider hat es aber auch die kleinste Spielstätte. Wie soll es denn dort weitergehen, wenn man Mindestabstände einhalten muss?

Weber: Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir in der Werkstatt so weitermachen wie bisher. Vielleicht kann man versuchen, auf der großen Bühne zu spielen - mit einer großzügigen Bestuhlung auf der Bühne. Ich denke, dass wir zunächst mal für Jugendliche spielen. Denn das ist eher kontrollierbar. Klassenzimmerstücke könnte man vielleicht ebenfalls realisieren.

Glauben Sie denn, dass Sie im September in die neue Saison starten können?

Weber: Das kann im Augenblick noch keiner sagen. Wir hoffen es. Eine Variante wäre beispielsweise, im September mit einem Freilicht zu beginnen. Wettertechnisch könnte das schon gehen. Aber man muss sehen, wie sich die Pandemie entwickelt, ob es Impfstoffe gibt oder andere Testmöglichkeiten. Denn für Personen, die das Virus überstanden haben und immun sind, gelten ja wieder andere Regeln. Es gibt einfach so viele Unwägbarkeiten, dass man bei der Planung vorsichtig sein muss.

Wie sieht es denn mit den finanziellen Einbußen aus?

Weber: Bis jetzt haben wir einen Einbruch von etwa 250000 Euro. Wir haben den Abonnenten natürlich angeboten, dass wir die nicht wahrgenommenen Vorstellungen erstatten. Viele nehmen davon Abstand und spenden das Geld. Das wiederum wollen wir vor allem den freien Künstlern zugute kommen lassen, mit denen wir zusammenarbeiten. Denn die trifft die Krise gerade existenziell. Das sieht auch Ministerpräsident Söder so, der gerade für diese Künstler, die nicht so prominent sind, einen 100-Millionen-Euro-Fonds aufgelegt hat. Angelehnt an das Modell von Kopenhagen wollen wir darüberhinaus eine Möglichkeit schaffen, dass die Zuschauer Karten für Vorstellungen kaufen, die gar nicht stattfinden. Diese Gelder sollen dann in einen Spendenfonds einfließen, den wir gemeinsam mit dem Kulturreferat und den Theaterfreunden initiieren.

Am Montagnachmittag haben Sie das Ensemble informiert. Wie haben Sie kommuniziert?

Weber: 15 bis 20 Kollegen waren im Festsaal verteilt, alle anderen waren digital zugeschaltet. Das war schon eine seltsame Situation. Vor allem, wenn man in so viele vermummte Gesichter blickt.

Wie hat das Ensemble auf Ihre Pläne reagiert?

Weber: Viele waren vermutlich erschrocken. Schließlich freuen sich alle auf die neue Spielzeit, den tollen Spielplan, interessante Regisseure, schöne Rollen. Und all das bricht plötzlich weg. Aber bei aller Hoffnung auf ein baldiges Ende der Krise: Wir müssen uns jetzt mit dieser Situation auseinandersetzen. Deshalb gab es eine lebhafte Diskussion über aktuelle Möglichkeiten, unser Publikum zu erreichen: etwa eine Kooperation mit der Tafel, musikalische Aktionen für Altenheime, die man von außen bespielen könnte, ein eigener Radiopodcast mit einer verbindlichen Programmstruktur, die Professionalisierung unseres Netzauftritts. All das gehen wir in den nächsten Wochen verstärkt an.

Im ZDF läuft schon eine Comedyserie zu Corona. Gibt es denn auch schon Theaterstücke zur aktuellen Lage?

Weber: Sie werden kommen und wir überlegen uns dazu auch eine Auftragsproduktion. Denn die psychischen Spätfolgen der Krise werden ein großes Thema sein. Wie geht man damit um, wenn man auf sich selbst zurückgeworfen ist? Dieses Thema muss auch im Theater verhandelt werden. Es gibt schon ein paar Stücke, die sich anbieten. Edgar Allen Poes "Maske des roten Todes" diskutieren wir gerade oder auch "Jedermann stirbt" von Ferdinand Schmalz. Ein weiteres wichtiges Thema wäre auch die Einschränkung von Freiheitsrechten.

Nächste Spielzeit - im März 2021 - sollte erstmals ein bayerisches Festival für Kinder- und Jugendtheater stattfinden - mit Auftakt in Ingolstadt. Wie stehen denn da die Prognosen?

Weber: Das ist noch nicht ganz klar. Memmingen hat als ausrichtendes Theater die Bayerischen Theatertage um ein Jahr verschoben, so dass dann in einem Jahr beide Festivals stattfinden müssten. Das wäre nicht gut. Andererseits: Wenn wir das "Südwind"-Festival ebenfalls ein Jahr schieben würden, müsste es zeitgleich mit dem "panoptikum" in Nürnberg über die Bühne gehen. Wir überlegen, ob man beides dann nicht zusammenlegen sollte. Das muss noch in den entsprechenden Gremien diskutiert werden.

"Herz der Stadt" steht auf dem Theater, so lautete auch das Motto der kommenden Spielzeit. Jetzt hat das Haus mit einem Infarkt zu kämpfen. Welche Folgen der Corona-Krise für das Stadttheater können Sie sich denn vorstellen?

Weber: Ich glaube, dass das Theater der große Gewinner sein wird, wenn alles vorbei ist. Denn die Sehnsucht nach diesen analogen Orten spürt man jetzt allenthalben. Wenn alles wieder losgeht, werden es die Leute lieben, ins Theater zu gehen. Allerdings erst, wenn es gefahrlos möglich ist. Das Theater als analoger Ort der Auseinandersetzung wird so wichtig sein wie nie. Ich mache mir keine Sorgen um die Zukunft. Wir haben eine schwierige Zeit zu überbrücken - mit diesen improvisierten Formaten, in einer improvisierten Spielzeit. Vermutlich müssen wir mit weniger Zuschauern rechnen. Wir müssen schneller werden, die Formate verknappen und verdichten. Das geht über einen gewissen Zeitraum. Aber dann werden wir das Theater so dringend brauchen wie nie zuvor. Und deshalb brauchen wir auch die Kammerspiele.

Was bedeutet die Krise für die Kammerspiele? Stillstand auch dort?

Weber: Ich könnte mir vorstellen, dass gewisse Leute die Situation nutzen, um das Thema Kammerspiele vorläufig ad acta zu legen. Aber das hilft nicht. Es gibt eine Zeit nach Corona. Und die Probleme lösen sich ja nicht in Luft auf. Im Gegenteil, sie verschärfen sich eher noch. Ich hoffe, dass der neue Stadtrat auf der Basis der Wettbewerbsentwürfe eine Entscheidung trifft und der Bau endlich angegangen wird. Wir merken doch gerade jetzt, wo es uns fehlt: Auch Kunst und Kultur sind systemrelevant.

DK

Die Fragen stellte

Anja Witzke.