"Wenn ich singe, empfinde ich Frieden"

Mit seiner Band The Who veröffentlicht Roger Daltrey nach 13 Jahren ein neues Studioalbum

05.12.2019 | Stand 02.12.2020, 12:27 Uhr
"Wir zwei haben eine ulkige Beziehung": Roger Daltrey (links) über Pete Townshend. Ihr neues Album erscheint heute. −Foto: Buck, dpa

London - Wir treffen Roger Daltrey (75) in einem altmodischen Hotel in der Londoner Innenstadt, der Sänger von The Who ist in bester Stimmung, lacht immer wieder und gern laut.

Die Freude darüber, mit "Who" 13 Jahre nach "Endless Wire" wieder ein neues Album zusammen mit Pete Townshend, seinem ungleichen, aber mittlerweile in Liebenswürdigkeit verbundenen Partner zu veröffentlichen, ist groß. Und das zu Recht: Denn "Who" ist eine überzeugende, elf Stücke umfassende, Sammlung geworden. Vor dem Attribut "Spätwerk" sträubt man sich schon deshalb, weil Songschreiber/ Gitarrist Pete Townshend (74) und auch Daltrey selbst auf Songs wie "Hero Ground Zero" oder "Ball And Chain" mehr nach Mittzwanzigern als nach Mittsiebzigern klingen.

Mr. Daltrey, Ihr Kollege Pete Townshend sagt, er habe Ihnen die neuen Songs quasi auf den Leib geschrieben. Sehen Sie das auch so?


Roger Daltrey: Am Anfang habe ich das überhaupt nicht so gesehen. Im Sommer 2018 schickte Pete mir überraschend die zwölf Songs und meinte "Ich will ein neues The-Who-Album machen". Ich mochte die Demos, aber für mich klang das alles sehr nach einem Pete-Soloalbum. Ich fühlte mich von diesen Liedern angesungen, aber nicht als ein Teil von ihnen. Ich spürte das alles nicht. Ich kam mir vor wie ein gemieteter Sänger auf einem Who-Album. Das habe ich ihm dann auch gesagt.

Wie nahm er Ihre Kritik auf?


Daltrey: Ohne neue Songs wollte er absolut nicht mehr auf Tour gehen. Er meinte, er wolle keine Gestalt von gestern sein, die nur noch mit altem Zeugs ankommt. Ich verstand, was er meinte und versprach ihm, den Liedern noch eine Chance zu geben. Ich hörte und hörte und langsam nahmen diese Songs in meiner Fantasie Formen an, so dass ich irgendwann dachte "Okay, geht vielleicht doch". Wir haben dann ein paar Sachen an den Texten geändert, aus diesem ewigen "Ich, ich, ich" bei "I Don't Wanna Get Wise" zum Beispiel auch mal ein "du" oder ein "wir" gemacht. Langsam, aber sicher konnte ich mich mit diesen Songs identifizieren.

Woran merken Sie, dass ein Song für Sie passt?


Daltrey: Ich muss in ihn hineinschlüpfen, er muss in mir leben. Ich kann einen Song nur mit dem Herzen singen, nicht mit dem Kopf. Und so fing ich an, diese neuen Kompositionen erstmal gesanglich mit ganz groben Pinselstrichen zu malen, indem ich Melodien und Phrasierungen in die Luft warf, mich dazu bewegte, einfach schaute, wie diese Musik auf mich und meine Stimme wirkte. Schließlich stand für mich fest, dass ich auf der richtigen Spur bin. Und hier sind wir nun. Ich bin extrem stolz auf dieses Album. Für mich, und auch für Pete, ist es das beste seit "The Who By Numbers" 1975.

In "I Don't Wanna Get Wise singsen Sie die Zeile "We tried hard to stay young". Hat es geklappt, jung zu bleiben?


Daltrey (lacht): Naja, Dein Körper bleibt nicht wirklich jung, aber dein Geist sehr wohl. Ich habe festhalten können an meiner Attitüde als junger Mensch. Das Feuer in meinem Inneren, es brennt immer noch. Du kannst keine Who-Musik machen ohne dieses Feuer. Ich kann mich emotional nicht künstlich anknipsen.

Wie zünden Sie das Feuer an?


Daltrey: Das geschieht, sobald ich etwas singe, das mich bewegt. Beim Singen werde ich wirklich komplett, geradezu eins mit dem Universum. Alles ergibt Sinn. Wenn ich singe, empfinde ich Frieden.

Singen Sie jeden Tag?


Daltrey: Nein. Ich höre auch nicht täglich Musik. Ich bin wirklich sehr, sehr taub und will mein Restgehör schonen.

Was tun Sie für die Stimme?


Daltrey: Nichts, außer regelmäßig zum Arzt zu gehen. Ich habe eine Vorstufe zum Krebs, darauf muss ich ein Auge haben. Zum Glück behandelt mich der wohl beste Stimmbandchirurg der Welt, er sitzt in Boston und bekommt mich seit zehn Jahren immer wieder hin. Ich finde, dass ich heute besser singe als je zuvor, aber es gibt keine Garantie.

Hatten Sie Angst, nicht mehr singen zu können?


Daltrey: Diese Angst hat jeder Sänger. Wenn deine Gitarre kaputt geht, nimmst du dir eine neue. Aber wenn deine Stimme kaputt geht, ist es vorbei. Die Stimme ist ein Muskel, so wie alles andere am Körper auch. Ich bin insgesamt sehr stark und zäh, alles an mir ist kompakt und straff. Ich war früher Metallarbeiter, ich bin also mit harter Arbeit aufgewachsen.

Wann ist es genug?


Daltrey: Sobald ich fühle, dass ich es nicht mehr bringe. Wenn ich merke, dass ich die Menschen nicht mehr bewege. Mit einer nachlassenden Stimme werde ich nicht mehr auf der Bühne stehen.

Wie ist heutzutage Ihr Verhältnis zu Pete Townshend?


Daltrey: Wir zwei haben eine ulkige Beziehung. Alles, was wir machen, machen wir aus verschiedenen Blickwinkeln. Wir arbeiten grundsätzlich in verschiedenen Studios, wir vermeiden es konsequent, einander über die Schulter zu sehen. Irgendwie funktioniert das mit uns telepathisch. So eine Verbindung lässt man am besten in Ruhe und hinterfragt sie nicht.

Haben Sie persönliche Favoriten auf dem neuen Album?


Daltrey: Ja. Wirklich gern mag ich "Street Song" und ganz besonders liebe ich das gefühlvolle "Beads On A String". Auch "She Rocks My World" finde ich großartig. Die übrigen Songs sind auch alle in Ordnung, aber sie sind altmodische The-Who-Derivate.

Haben Sie das Pete so gesagt?


Daltrey: Nein, besser nicht. Aber es ist doch so, und es ist okay. Du kannst die Fans nicht dafür kritisieren, dass sie uns so hören wollen, wie wir früher waren.

Sie haben im vergangenen Jahr Ihre Memoiren "Thanks A Lot Mr Kibblewhite" veröffentlicht, Pete seine mit dem Titel "Who I Am" schon 2012. Haben Sie verglichen?


Daltrey: Nein, nein. Ich habe seine nicht gelesen, und er meine mit Sicherheit auch nicht. Wir sind zusammen aufgewachsen, da steht eh nichts drin, was ich noch nicht weiß.

Sie sind einer der erfolgreichsten Rocksänger in einer der einflussreichsten Rockbands der Geschichte?


Daltrey: Langsam, langsam (lacht). So sehe ich das nicht. Ich bin derselbe Roger Daltrey, der an seinem 15. Geburtstag aus der Schule marschiert ist und sich einen Job in der Fabrik suchte. Ich hatte damals das riesige Glück, dass meine Jugend genau in die Zeit der Swinging Sixties in London fiel. Unser Leben passierte in einem atemberaubenden Tempo, unsere Kreativität war eine Spirale, die sich rasant nach oben drehte, wir waren mittendrin in einer goldenen Ära der menschlichen Geschichte.

War Ihnen das zu der Zeit bewusst?


Daltrey: Kein Jugendlicher glaubt seinen Eltern, wenn sie ihm sagen "Das hier ist die beste Zeit deines Lebens", ich auch nicht. Die Jugend steht für Rebellion. 1968 schrieb Pete "Tommy", ein sehr spirituelles Album, das den Nerv der Menschen traf, insbesondere in den USA, wo die Jugend extrem in Angst lebte, denn jeder konnte schon am nächsten Tag zwangsweise eingezogen und in einen sinnlosen, blutigen Krieg nach Vietnam geschickt werden. Wieder hatten wir also Glück. Später dann auf der Bühne machte ich meinen Job, indem ich das Haar lockig und engelsgleich trug. Ich wurde zu dieser mystischen, abgefuckten Figur namens Tommy.

Das Haar ist heute kurz, aber immer noch lockig. Überhaupt sind Sie gut in Schuss geblieben.


Daltrey: Ich habe Haschisch geraucht, aber ich habe nie Kokain genommen und mich auch von den psychotischen Drogen ferngehalten. Ich hatte nie Interesse daran, mich wegzuballern.


Überrascht es Sie, dass noch so viele junge Leute zu Ihren Shows kommen?


Daltrey: Nein, auf die Kids ist wirklich Verlass. Ich bin sehr dankbar darüber. Und ich freue mich sehr, dass die Menschen erkennen, dass Spotify nicht alles ist und dass ein gutes Albumcover künstlerisch so wertvoll ist wie ein Gemälde.

DK

Das Interview führte

Steffen Rüth.