Ingolstadt
Was kommt nach der Katastrophe?

Großer Jubel: Schirin Khodadadian inszeniert "Das Erdbeben in Chili" im Stadttheater Ingolstadt

17.10.2021 | Stand 23.09.2023, 21:21 Uhr
Wie aus einem Rembrandt-Gemälde: Sascha Römisch, Luiza Monteiro, Enrico Spohn und Peter Reisser erzählen vom Erdbeben in Chili. −Foto: Herbert

Ingolstadt - Die Bühne: schwarz. Podeste in unterschiedlichen Höhen und Breiten. Metallkonstruktionen mit und ohne schwarze Holzdeckel, die zu Gräbern werden können, zum Gefängnis, zur berstenden Erdkruste. Im Zentrum ein raumhohes Gerüst, noch zu Beginn mit schwarzen Platten versperrt. Sinnbild für eine geschlossene Gesellschaft, ein starres System. Später wird man sie entfernen und den Blick auf Portale aus Neonröhren freigeben, die sich perspektivisch nach hinten verjüngen: ein Ausweg, ein Möglichkeitsort, vielleicht auch - ein Zeittunnel ins Heute.

Eine spannende Bühne hat Carolin Mittler da ins Kleine Haus gebaut. Eine, die von den Schauspielern nicht nur virtuos als Spielmaterial genutzt wird, sondern eine Vielzahl von Assoziationen freisetzt.

"Das Erdbeben in Chili" von Heinrich von Kleist (1777-1811) steht auf dem Spielplan des Stadttheaters Ingolstadt. In Szene gesetzt von Schirin Khodadadian, die nach 15 Jahren erstmals wieder in Ingolstadt inszeniert. Die Premiere am Freitagabend fand vor ausverkauftem Haus statt und wurde am Ende frenetisch bejubelt.

Kleists Novelle spielt 1647 und erzählt von einer unstandesgemäßen Liebe in einem absolutistischen System. Jeronimo und Josephe sind in Haft, ihnen droht der Tod. Da erschüttert ein Erdbeben St. Jago, die Hauptstadt des Königreichs Chili. Was für Tausende den Tod bringt, bedeutet für Josephe und Jeronimo die Rettung. Im allgemeinen Chaos erleben sie Glück und Mitmenschlichkeit - allerdings nur kurz. Ausgerechnet beim Dankgottesdienst werden sie - aufgestachelt durch die Rede des Predigers - Opfer einer Lynchjustiz. Nur ihr kleiner Sohn überlebt.

Schon die Kostüme der Schauspieler - schwarz, hochgeschlossene Starre, Korsett, Mühlsteinkrause, barocke Üppigkeit - verdeutlichen: Hier geht es an den Ursprung des Erzählens. Die Inszenierung hebt an mit einem Märchen. "Wie Kinder Schlachtens miteinander gespielt haben" von den Gebrüdern Grimm, in dem am Ende eine ganze Familie ausgelöscht ist. Und es wird klar: Auch dieser Abend wird dramatisch enden.

Gemeinsam mit Dramaturgin Katrin Breschke hat Regisseurin Schirin Khodadadian eine Bühnenfassung für vier Schauspieler geschaffen. Gemeinsam treten sie als Erzähler auf, schlüpfen immer wieder in die Figuren, kommentieren das Geschehen. Das ist der Clou der Inszenierung: Jede Figur reißt die Erzählung an sich, drängt sich in den Vordergrund, beharrt auf ihrer Sicht der Dinge. Alle konkurrieren um die Wahrheit. Wer darf sprechen? Wann? Wie lange? Worüber?

Hier geht es also um das Narrativ, um die Deutungshoheit der Geschichte. Insofern kann man das Bühnen- auch als Erzählgerüst verstehen.

Khodadadian und Breschke haben Kleists Text klug mit dem Seziermesser zerteilt, Sätze herausgetrennt, neu zusammengefügt und assoziationsreich verwoben, so dass der Text von 1807 zur Folie für die gegenwärtige Nach-Pandemiezeit wird, von einer Katastrophe und den Folgen erzählt. Vom Überleben. Vom Beharren auf dem Status quo. Von der Chance auf Veränderung. Von der Neuordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Und ganz allgemein: vom Menschsein. Und wie die Schauspieler sich diese Sprache aneignen, sie geradezu zelebrieren, das ist ganz großes Theater. Sascha Römisch, Peter Reisser, Enrico Spohn und - die eigentliche Entdeckung des Abends - Luiza Monteiro agieren mit ungezügelter Spiellust, mit großer Präzision und ja, auch Komik. Wie sie um die Macht des Erzählens ringen, die riesigen Halskrausen wetzen, sich bessere Startpositionen sichern, sich immer lauter Gehör verschaffen, und dann wieder ganz still und intensiv mit ihren Figuren verschmelzen, wie sie (Bühnen)Hindernisse erklimmen und überwinden, wie sie tanzen und kämpfen zu Katrin Vellraths Sound aus sirrender Bedrohlichkeit, Herzschlag und Eruption, wie alles wieder rückwärts läuft und neu ansetzt - das ist so meisterhaft wie unterhaltsam. Ein Abend, der nachhallt. Und ein blitzgescheiter Kommentar zu den drängenden Fragen der Gegenwart. Langer Applaus.

DK

ZUR PRODUKTION

Theater:

Kleines Haus Ingolstadt

Regie:

Schirin Khodadadian

Ausstattung:

Carolin Mittler
Musikalische Leitung:

Katrin Vellrath

Vorstellungen:

bis 19. November

Kartentelefon:

(0841) 30547200

Anja Witzke