Ingolstadt
Vom Leben gezeichnet

Autorin und Illustratorin Judith Kerr blickt zurück

18.10.2018 | Stand 23.09.2023, 4:42 Uhr
Auch nach Jahrzehnten gehören Kinderbücher wie "Ein Tiger kommt zum Tee" zu den beliebtesten Werken, die sich an junge Leser richten. −Foto: Verlag Edition Memoria

Ingolstadt (DK) Judith Kerr ist mit dem Roman "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" berühmt geworden. Jetzt hat sie mit 95 Jahren eine Biografie geschrieben. Darin blickt sie auf ein "erstaunlich erfülltes und glückliches Leben" zurück - trotz Krieg, Flucht und Schicksalsschlägen.

Judith Kerr weiß, wie es sich anfühlt, auf der Flucht zu sein, wie es ist, wenn die heile Welt von dem einen auf den anderen Augenblick zerbricht, wie es ist, seine Heimat hinter sich lassen zu müssen, neu anzufangen, ohne zu wissen, was einen erwartet. "Wenn man seine Kindheit als Flüchtling in mehreren Ländern verbracht hat, empfindet man die Familie wie eine Insel", schreibt Kerr, Kinderbuchautorin und -illustratorin in ihrer neuen Biografie. Es ist ein Satz, den wohl gerade viele Menschen ohne Heimat unterschreiben würden.

In "Geschöpfe. Mein Leben und Werk", erschienen im Verlag Edition Memoria, gewährt die Tochter des legendären Theaterkritikers Alfred Kerr mit Texten, Fotos, Kinderzeichnungen und Illustrationen einen sehr persönlichen Einblick in ihre bewegende Lebensgeschichte. Sie erzählt nicht nur über ihre Kindheit als Flüchtling, sondern schildert auch, wie sie zur Illustration und zum Schreiben gekommen ist, woher die Ideen für ihre Kinderbücher stammen und wie sie sich in England ein Leben aufbaute. Und von ihrem geliebten Mann Tom, der vor zwölf Jahren starb.

Die Autorin erzählt in ihrer Biografie so ehrlich über Lebenskrisen, Schicksalsschläge und Glück, dass einen ihre Geschichte direkt ins Herz trifft. Auf den 170 Seiten kann der Leser mit Kerr mitfühlen, mitweinen und mitlachen - vor allem dank der zahlreichen humorvollen Anekdoten, die sie mit ihren Katzen erlebte. Sie lieferten jede Menge Material für ihre Geschichten mit Mog, dem Kater aus der erfolgreichen Bilderbuch-Reihe"Mog The Forgetful Cat".

 

 


Judith Kerr ist neun, als ihr Leben auseinanderbricht. Es ist das Jahr 1933. Die Nazis kommen an die Macht. Kerr und ihre jüdische Familie müssen aus Berlin fliehen. Sie kommen in die Schweiz. Judith lernt ihre erste Fremdsprache, "Schwitzerdeutsch". Gerade als sich Kerr eingelebt hat, muss sie das Land wieder verlassen. Die Familie zieht nach Frankreich, weil ihr Vater dort auf Aufträge hofft. Kerr lernt die Sprache schnell und besteht die Abschlussprüfungen in der Schule mit Bravour. Es gefällt ihr dort so gut, dass sie in ihrer kindlichen Euphorie zu ihrem Vater sagt: "Ist es nicht wundervoll, ein Flüchtling zu sein!" Dieser Satz muss Alfred Kerr, der zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, wovon er leben sollte, "umgehauen haben", so formuliert es Kerr rückblickend.

Dass sich das junge Mädchen trotz Flucht und Heimatlosigkeit so wohlfühlte, lag ihren Eltern sehr am Herzen. Sie versuchten, Judith und ihrem Bruder "das Gefühl zu geben, dies alles sei ein großes Abenteuer". Erst Jahrzehnte später erfährt sie aus Briefen, dass ihre Mutter zu diesem Zeitpunkt Suizidgedanken hatte und im Ernstfall bereit war, ihre Kinder mit in den Tod zu nehmen.

Frankreich ist aber auch nur eine Zwischenstation im Leben von Judith Kerr. 1936 kommt sie nach England und fängt wieder bei null an. Aber sie kämpft sich durch und baut sich dort ein Leben auf. Sie erzählt im Buch, wie sie nach einigen Widerständen Kunst studieren konnte, sich mit Stoffentwürfen über Wasser hielt, wie sie einen Job bei der BBC ergatterte und dort beim Mittagessen in der Kantine Tom Kneale kennenlernte, ihre große Liebe. Es ist berührend zu lesen, welche innige Beziehung Kerr zu ihrem Mann hatte. Sie schreibt: "Wir waren 54 Jahre zusammen, aber uns ist nie der Gesprächsstoff ausgegangen." In England entdeckte sie auch ihre große Leidenschaft: das Illustrieren von Kinderbüchern. Ihre Bilderbücher "Ein Tiger kommt zum Tee" oder die "Kater Mog"-Reihe gehören auch nach Jahrzehnten zu den beliebtesten Werken, die sich an junge Leser richten.

 

 



Judith Kerr ist 17 Jahre alt, als die deutsche Luftwaffe London bombardiert. "Ich glaube, es geschah während dieser dunklen Monate im Jahr 1940, dass ich Britin wurde", schreibt Kerr. Sie entdeckt die Freundlichkeit der Engländer gegenüber der "mit unverkennbar deutschem Akzent" sprechenden Ausländerin, die britische Toleranz und den Humor. Lange Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hat Kerr einen Bogen um ihre alte Heimat Berlin gemacht - sie empfand, wie sie schreibt, Unbehagen, wenn sie dort zu Besuch war. Das änderte sich, als sie den Deutschen Jugendliteraturpreis für ihren autobiografischen Roman "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" erhielt. 1975 sei eine neue Generation herangewachsen, "die mit den Nazigräueln nichts zu tun hatte", so Kerr. Bis heute bleibt das Kinderbuch ein bewegendes historisches Dokument und ein Beleg für die Kraft der Literatur - denn mit dem Roman hat Kerr schon in den 70er-Jahren einen unermesslich wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit geleistet - in einer Zeit, in der die Schlussstrich- und Verdrängungsmentalität noch weit verbreitet waren.

"Es war ein erstaunlich erfülltes und glückliches Leben, und es hätte so leicht anders sein können", sagt die 95-Jährige am Ende des Buches. Sie schließt ihre Autobiografie mit den Worten: "Dieses Buch ist den eineinhalb Millionen jüdischen Kindern mit all ihren ungemalten Bildern gewidmet, die nicht so viel Glück hatten wie ich."

Zum Buch

Judith Kerr: Geschöpfe - Mein Leben und Werk, Edition Memoria, 176 Seiten, 36 Euro.

 

Xenia Schmeizl