Ingolstadt
"Viele Häuser sind Abziehbilder"

Architekt Frank Seehausen führt am Donnerstag durch Alf-Lechner-Museum

08.01.2019 | Stand 02.12.2020, 14:53 Uhr
Frank Seehausen, Kurator der Ausstellung über Sigrid Neubert im Lechner-Museum, führt morgen durch die Schau. −Foto: Borgmann

Ingolstadt (DK) Im Alf-Lechner-Museum in Ingolstadt sind derzeit die beeindruckenden Fotografien - Natur und Architektur - von Sigrid Neubert (1927-2018) zu sehen.

Am morgigen Donnerstag führt der Kurator der Schau, Frank Seehausen, um 18 Uhr durch die Ausstellung und widmet sich besonders den Einfamilienhäusern, die Sigrid Neubert in den 60er-Jahren fotografiert hat.

Herr Seehausen, was machen die Einfamilienhäuser, die Sigrid Neubert fotografiert hat, so besonders?

Frank Seehausen: Stellvertretend lässt sich das an dem kleinen Haus Gautier zeigen, das Sigrid Neubert 1957 in Starnberg fotografierte. Entworfen wurde der auf einer horizontalen Mauer aufgelagerte weiße Kubus, der fast schon ein Prototyp einer internationalen architektonischen Moderne ist, von dem jungen Architektenehepaar Walther und Bea Betz aus München. Haus Gautier schafft einen bemerkenswerten Spagat: Mit seinem kompakten Grundriss entspricht er den Bedürfnissen und knappen finanziellen Ressourcen der jungen Familie. In der Klarheit von Gebäudeform und Details, der Einfachheit der Materialien und der konsequenten Reduktion der Einrichtung ist es ein hochmodernes Bekenntnis von Bauherren und Architekten zu Funktionalität, Internationalität, Leichtigkeit, Ästhetik und visuellen Offenheit. Themen, die Neubert in ihren Bildern ebenso herausarbeitete, wie den Bezug zur Landschaft.

Platz, Ruhe und Natur sind Luxusgüter geworden. Heutzutage schießen Wohnkomplexe von Investoren aus dem Boden, die sich häufig quer durch die Republik ähneln. Haben Architekten überhaupt noch die Chance, individuelle und experimentelle Entwürfe zu gestalten?

Seehausen: Es braucht beides: gute Architekten und gute Bauherren, um ein gutes Gebäude zu errichten. Wichtig ist dabei auch ein Klima gesellschaftlicher Verantwortung, ein Bewusstsein für den Ort, seinen Maßstab und seine gesellschaftlichen und sozialen Beziehungen. Gut gestalteter Raum kann dann auch auf wenig Fläche Großzügigkeit, Möglichkeiten des Rückzugs und sozialer Interaktion schaffen. Das erfordert allerdings intensive planerische und gestalterische Überlegungen, die anonyme und rein auf Rendite fixierte Investoren meistens nicht leisten. Viele Häuser sind daher heute zu Abziehbildern vermeintlicher Erwartungen der avisierten Zielgruppen verkommen. Das ist keine Architektur, sondern Marketing.

In manchen Städten ermöglicht die Politik Stadtviertel mit individuellen Gestaltungsmöglichkeiten. Fern ab uniformer Architektur. Liegt darin eine Chance?

Seehausen: Mit der Errichtung eines Gebäudes hat man immer auch eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, schließlich gestaltet man auf lange Sicht den Lebensraum vieler Menschen. Insofern können individuelle Gestaltungsmöglichkeiten eine Chance sein, solange damit Augenmaß und Bewusstsein für die Gemeinschaft verbunden sind.

Was würden Sie sich von Bauherren, was von Stadtplanern wünschen?

Seehausen: Bewusstsein und Sensibilität für die Qualitäten des Raums und des Zusammenlebens. Das ist weniger eine Frage der Finanzen, als der Strukturen, des persönlichen Willens und der gestalterischen Fähigkeiten. Für ein funktionierendes Gemeinwesen und damit auch für gesellschaftliche und politische Verantwortung jedes Einzelnen ist das aber besonders wichtig.

 
Was können wir von der Architektur der 60er-Jahre lernen?

Seehausen: Viel, denn in den 1960er-Jahren befand sich die Menschheit weltweit in einem radikalen Erneuerungs- und Modernisierungsprozess, der damals sehr bewusst wahrgenommen, diskutiert und gestaltet wurde. Diese sehr unterschiedlichen Lösungsansätze bieten uns heute ein enorm breites Spektrum zur Reflexion, zumal viele Themen ganz ähnlich waren: globale Verstädterung, Individualisierung, Flexibilisierung. In der Architektur kamen neue Materialien und Vorstellungen des Zusammenlebens hinzu. Nicht alles ist gelungen, doch war der Grundtenor der 1960er-Jahre insgesamt optimistischer. Man glaubte daran, die Dinge lösen zu können, nicht allein durch Technik. Und man hatte Mut zur klugen Innovation und Vertrauen in Architekten - auch in junge Architekten, denen wir heute viel zu wenige Chancen geben.  

Die Fragen stellte Katrin Fehr. Zur PersonFrank Seehausen ist Architekt, promovierter Kunsthistoriker, Autor und Kurator. Er hat in Berlin studiert, ist Architekturpreisträger des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft im BDI und hatte diverse Lehraufträge. Derzeit arbeitet er am Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege in München.