"Vernachlässigt von der Politik"

25.10.2020 | Stand 02.12.2020, 10:17 Uhr
Demonstration auf dem Königsplatz. Wegen Corona-bedingter Existenzangst haben Künstler und ihre prominenten Unterstützer wie Julian Nida-Rümelin (unten, rechts) bei einer Kundgebung in München Hilfe von der Politik verlangt. −Foto: Stäbler, Mirgeler, dpa

München - Es war noch im Juli, als Veronika Stross beschloss, dass sie etwas unternehmen müsse - "nach vielen schlaflosen Nächte", wie die Berufsmusikerin erzählt.

Hinter ihr lagen etliche Wochen ohne einen einzigen Auftritt, ohne Applaus, ohne Gage. Infolge der Corona-Pandemie waren sämtliche Konzerte abgesagt worden - und nicht nur sie. Auch Theater blieben zu, Galerien mussten schließen, Filmdrehs wurden gestoppt. Und so standen plötzlich tausende Schauspielerinnen, Tänzer, Kamerafrauen, Bühnenbildner, Musikerinnen und Kulturschaffende jeglicher Couleur mit geringen bis gar keinen Einkünften da - dafür aber mit umso größeren Zukunftssorgen.

Auch im Umfeld von Veronika Stross bangten freischaffende Künstlerinnen und Künstler um ihre Existenz. Und so beschloss die Bratschistin an jenem Julitag, eine Kundgebung auf die Beine zu stellen. "Ich war schon immer jemand, der sich zu Wort gemeldet hat, wenn andere Menschen ungerechnet behandelt werden. In der Schule habe ich mir dafür einige blaue Augen geholt", sagt Veronika Stross, die an diesem Samstag zwischen den klassizistischen Säulen der Propyläen steht. Hinter ihr füllt sich der Münchner Königsplatz mit Menschen - an die 1000 werden es später sein. Sie alle haben sich heute zu jener Kundgebung versammelt, die damals als fixe Idee im Kopf von Veronika Stross entstand. Das Motto: "Aufstehen für Kultur. "

"Die Kultur ist in Gefahr im Keim erstickt zu werden", sagt die Chef-Organisatorin wenig später auf der Bühne. "Wir werden seit Monaten vernachlässigt und vergessen von der Politik. " Diese Kombination aus Hilfe- und Klageruf zieht sich danach wie ein roter Faden durch die Beiträge der vielen prominenten Redner. Den Auftakt macht eine Video-Botschaft von Gerhard Polt, und wie so oft braucht der Großmeister des bajuwarischen Humors nur wenige Worte. "Systemrelevant, das ist ja ein furchtbarer Ausdruck", beginnt Polt. Er denke dabei stets an die Fabel von der Ameise und der Grille. "Die Ameise, die ist wichtig, denn die baut etwas auf. Und was macht die Grille? Die Grille zirpt! Aber zirpen hat keine große Relevanz. Aufs Zirpen kann man verzichten. "

Dabei sei die Kultur keineswegs "die Zugabe, auf die man verzichten kann", sagt wenig später Hans Maier, heute 89 Jahre alt und von 1970 bis 1986 Kultusminister im Freistaat. Er verweist auf die Bayerische Verfassung, in der es heißt: Bayern ist ein Kulturstaat. Allein diese Maßgabe hat die Politik seit Beginn der Corona-Krise weitgehend ignoriert - davon sind viele Kulturschaffende überzeugt. Während andere Branchen mit Milliarden gestützt wurden, konnten etliche freischaffende Künstlerinnen und Künstler nicht mal die Soforthilfen beantragen, da diese nur für Betriebsausgaben verwendet werden durften - nicht aber zur Deckung der Lebenshaltungskosten. "Wir brauchen umfangreiche staatliche Kompensationen der Verdienstausfälle nach dem Vorbild des Kurzarbeitergeldes", nennt der Cellist Michael Rupprecht eine zentrale Forderung der Veranstalter. Die andere lautet: eine Lockerung der Zuschauerauflagen bei Kulturveranstaltungen.

Ob man dies angesichts stark steigender Infiziertenzahlen überhaupt verlangen darf? "Doch, das kann man fordern", findet Wolfgang Heubisch (FDP), auch er ein früherer Kultusminister. "Gerade die Spielstätten und Theater haben einen unglaublich ausgetüftelten Plan, wie sie das Corona-Virus verhindern können in ihren Bereichen. Es gibt keinen Corona-Fall, der in den Theatern entstanden wäre. " Eine Benachteiligung der Kulturbranche beklagt auch Julian Nida-Rümelin, Philosoph und einst Kulturstaatsminister unter Kanzler Gerhard Schröder. Er sei kürzlich im IC von Stuttgart nach München gesessen, zu viert an einem Tisch. Im Theater dagegen werde die erlaubte Besucherzahl so niedrig angesetzt, dass es für viele Häuser existenzbedrohend sei, warnt Nida-Rümelin. "Dabei kann ich mir nicht vorstellen, dass das Virus Rücksicht darauf nimmt, ob man im Theater oder im Intercity sitzt. "

Für diesen Satz gibt's viel Applaus vom Publikum auf dem Königsplatz, das sich an diesem Tag größtenteils an die Abstandsregeln hält und nahezu geschlossen Maske trägt. Schon zu Beginn distanzieren sich die Veranstalter klar von Corona-Leugnern. "Die können gleich wieder heimgehen", ruft Moderator Roland Hefter. Der Kabarettist aus München berichtet von der prekären Lage, in der viele Kulturschaffende aktuell stecken. "Jeder hat gehofft, dass es im Herbst vorbei ist. Aber jetzt fällt schon wieder vieles weg", sagt Hefter. "Wir brauchen dringend Hilfe vom Staat, sonst gibt's hier Schicksalsschläge in der Szene. "

Ein Adressat all der Klagen und Forderungen steht die ganze Zeit unter den Zuschauern, ehe er zum Schluss der Veranstaltung ans Mikrofon tritt - unter vereinzelten Buhrufen. Kultusminister Bernd Sibler (CSU) wiederholt die jüngsten Ankündigungen des Ministerpräsidenten, wonach die Staatsregierung ein Hilfsprogramm für Soloselbstständige, eine Ausweitung des Spielstättenprogramms sowie Stipendien für Berufsanfänger plane. Mit Blick auf Veranstaltungen sagt Sibler aber auch: "Die steigenden Fallzahlen werden es uns sicher nicht leichter machen, weitere Öffnungen auf den Weg zu bringen. "

DK