Bregenzer Festspiele
Uraufführung von Alexander Moosbruggers Oper "Wind"

22.08.2021 | Stand 01.09.2021, 3:33 Uhr
In einer keimfreien Box: Polia (Hanna Herfurtner) und Poliphilo (Hagen Matzeit). −Foto: anja koehler

Bregenz - Der Homo Novus des digitalen Zeitalters ist manchmal von bestürzender Fantasielosigkeit.

Sogar großartige Werke der Vergangenheit erschließen sich ihm erst als statistisch-algorithmischer Datensalat - am besten mit farblosem und aromafreiem Informationsdressing. Der Homo novus entgeheimnist und entschlüsselt gerne und macht so aus Fossilen des Wahren, Guten, Schönen intellektuell abgekühlte Häufchen von geheimnisfrei aufbereiteten Bausteinen. Ein Produkt dieser hochkulturellen Versachlichungsstrategie ist die Oper "Wind" des Voralberger Komponisten und Orgel-Experten Alexander Moosbrugger, die in der Werkstattbühne des Bregenzer Festspielhauses zum 75. Jubiläum der Festspiele, die am Sonntag zu Ende gingen, zur erfolgreichen Uraufführung gelangte.

Zwei Reihen riesiger Orgelpfeifen der Firma Rieger-Orgelbau hoben und senkten sich über den Stufenreihen bis zur Zuschauer-Nummer 121, zwischen welche die Raumkünstlerin Flaka Haliti einen breiten Durchgang für die Mitwirkenden ließ. Deren Togen hatten durchaus rituellen Zuschnitt wie für Raumpatrouille Orion. Neben den nur selten energisch geforderten Vokal- und Deklamationsakteuren war auch der Dirigent Michael Wendeberg an der Tonproduktion und den zahlreichen von der Creative Producer Leonora Scheib ersonnenen Miniaktionen beteiligt. Intendantin Elisabeth Sobotka scheute keine Kosten für diese Gegenwartsposition mit regionaler Ausrichtung. Mit dem Quatuor Diotima und der Schola Heidelberg, für die Klangregie am riesigem Mischpult dazu Thomas Hummel und Maurice Oeser mit dem SWR Experimentalstudio verpflichtete man international gerühmte Eliten der Neuen Musik.

Die von Haliti in die Werkstattbühne gesetzte weiße Box offenbart die mit materieller Überfülle getarnte Poesie-Feindlichkeit des sich mit Fakten aus dem Netz versorgenden Homo Novus. Für die performative Adaption nach der wahrscheinlich von Francesco Colonna verfassten "Hypnerotomachia Poliphili" (1499) versprachen die Festspiele ein "Musiktheater, das uns zu Wandlern zwischen Traum und Wirklichkeit werden lässt". Die "Hypnerotomachia" ist trotz Wort- und Formgewalt eine arkadisch verspielte Vision, die in Verschränkung von Text und freizügigen Illustrationen in eine episoden- und symbolreiche Fantasie-Antike entführt. Diese offenbart sich als Paradies von sinnlicher Harmonie und elaborierten Bildungsidealen. Poliphilo (Hagen Matzeit) träumt von der Vereinigung mit Polia (Hanna Herfurtner) - und sie kommen tatsächlich zusammen. "Hypnerotomachia Poliphili" ist demzufolge eine Ermunterung, Gefühle und Körperlichkeit unter der epikureischen Kuppel von Sein, Bewusstsein und humanistischen Idealen auszuleben.

Moosbrugger löst die ganzheitliche Architektur dieses "Liebes-Kampf-Traums" auf in linear gereihte Bausteine mit sparsam gesetzter Musik, etwas mehr Orgeltönen und vielen Sprechtexten auf Deutsch, Englisch und Italienisch. Dafür sind performative Spezialisten am Werk, die so ein Partitur-Konstrukt in die gekonnt choreographierte und halbwegs stringente Aktionsreihe bringen. Halitis temporärer Raum ist derart klinisch, dass ihn das Publikum nur mit Schutzschuhen betreten darf. Keimfrei und sinnlichkeitsfern wirken auch die menschlichen Spielfiguren, ausgenommen natürlich der Solist mit Rollerblades und blutigen Knien.

So erfüllt sich im Einklang mit der aufwändigen Deko der gesamte Konventionen-Katalog des performativen Musiktheaters mustergültig. Jeder Zuschauer erlebt von seinem Platz die spezifiziert abgemischten Raumklänge und Bewegungen des tönenden, optischen und szenischen Geschehens anders. Aber die Summe der artistischen und inhaltlichen Einzelteile gerät trotzdem nicht größer oder sinngemäßer als der universelle Themenkorpus von "Hypnerotomachia Poliphili".

Die Hybris der Oper "Wind" erweist sich im Vergleich mit der Vorlage als klinisch, verhärmt und prosaisch. Auch hier schickt sich die Kunst am Beginn des digitalen Zeitalters an, alle Bedeutungsebenen zu negieren, die sich nicht mit empirischen Daten, klarer Zeichenhaftigkeit und dekonstruiertem Material rekapitulieren lassen. Kunst also im Zustand wie von in Stücke gerissenem Brot ohne Anspruch auf kulinarische Veredelung zum Semmel- oder Brezenknödel.

Parallel zu den Vorbereitungen zur Uraufführung von "Wind" dirigierte Michael Wendeberg an der Oper Halle die digitale Uraufführung der Oper "Im Stein" von Sara Glojnari? nach dem Roman von Clemens Meyer, in der es um die marktkonforme, aber lustferne Sexualisierung des kapitalistischen Alltags geht. Hier wie in Moosbruggers "Wind" folgt das Musiktheater der Gegenwart dem gleichen Trend: Der Epoche sexueller Übersteuerung folgt die erotische Eiszeit.

DK