Bilderbuch
Unterwegs mit Siebzehnmeilenschuhen

29.06.2020 | Stand 23.09.2023, 12:37 Uhr
Der Riese unter der Wiese: Von Gerhard Polt gab's auf "Gigaguhl und das Riesen-Glück" ein eigenes Lobgedicht. −Foto: Barbara Yelin, dtv Verlagsgesellschaft/Heike Bogenberger

Nachts entstand schon der "Zippel", nachts dichtete er auch am "Gigaguhl". Der Bestsellerautor Alex Rühle hat mit der renommierten Künstlerin Barbara Yelin ein staunenswertes Bilderbuch über einen sanften Riesen herausgebracht. Dazu gibt es auch einen großartigen Vorlesefilm.

 

München - Da stapft einer übers Feld und scheint etwas zu suchen. Beim See? Im Wald? Nichts! Dann setzt sich Alex Rühle auf einen Baumstamm, schließt die Augen und beginnt zu erzählen: "Gigaguhl Gargantua war der größte aller Riesen. Er berührte fast den Himmel und er konnte Stürme niesen." Und während er erzählt, taucht er auf, dieser Riese. Ein barfüßiger Bilderbuchriese mit blauem Bart und blauen Haaren. Wer ganz genau hinschaut, könnte ein Einhorn in der zerzausten Frisur entdecken. Oder "Amsel, Drossel, Papagei", die ihre Nester in seinen Ohren bauen. Dieser Riese nun schläft eines Nachts unter seiner bunten Sommerwiesen-Decke ein und merkt nicht, wie im Laufe vieler hundert Jahre auf dieser Wiese eine Stadt entsteht. Eine Stadt, in der zwei abenteuerlustige Kinder wohnen. Nick und Nina wecken versehentlich den Riesen aus dem Jahrhundertschlaf und es entsteht eine ungewöhnliche Freundschaft.

"Gigaguhl und das Riesen-Glück" hat Alex Rühle sein Buch genannt, aus dem der Filmemacher Martin Friedrich einen wunderschönen Bilderbuchfilm gemacht hat. Denn hier vermischen sich die reale Welt des Geschichtenerfinders mit einer Fantasiewelt, die mit Riesen und Zwergen bevölkert ist, in der kleine Menschen durch Gedankenräume marschieren und über Nasenrotz-Rutschen flitzen, in der Ziegen Ziegestütze und Gnus Gnubeugen machen und in der man für Weltreisen nur Siebzehnmeilenschuhe braucht. Martin Friedrich erweckt darin die Zeichnungen von Barbara Yelin zum Leben, die Alex Rühles Verse vom liebenswürdigen Riesen in eine starke Bildsprache übersetzt hat. Hier eine Stadt-Land-Fluss-Landschaft in Grün-Blau, in die sich der Riese bettet, dort Close-ups auf Nick und Nina, die ein eigentümliches Labyrinth aus Denk-, Farb- und Geheimisräumen erkunden. Und immer wieder: der Erzähler selbst, für den Kontrast in Schwarz-Weiß.

Wie es zu diesem ungewöhnlichen Filmprojekt kam, erzählt Alex Rühle im Gespräch. "Ich hätte hellhörig werden müssen, als mein Verlag dtv mir sagte, dass das Buch an einem Freitag, den 13. erscheint. Das war zwei Tage vor dem Lockdown. Das war einfach wahnsinniges Pech." Denn das Buch stand in den Buchhandlungen. Die Buchhandlungen waren zu. Und alle Lesereisen abgesagt. Dabei war die Nachfrage gerade nach Kinderbüchern groß. Alex Rühle merkte es an den Verkaufsszahlen seines Erstlings "Zippel, das wirklich wahre Schlossgespenst". Das lebt im Türschloss der Altbauwohnung von Pauls Familie und gerät in größte Schwierigkeiten, als das alte Schloss gegen ein modernes Sicherheitsschloss ausgetauscht werden soll.

Eigentlich ist Alex Rühle (Jahrgang 1969) ja Journalist und seit 20 Jahren Redakteur der "Süddeutschen Zeitung". Aber er hat schon immer Geschichten für seine Kinder erfunden - zum Einschlafen. Die sind längst groß, "aber ich glaube, damals wurde so eine Art Erzählmuskel trainiert", sagt er. Und als er eines Tages nach Hause kam und das Schloss klemmte, da blitzte in seinem Kopf das Wort "Schlossgespenst" auf. "Nachts bin ich mit diesem Wort aufgewacht. Da kam mir die Idee, dass ein Schlossgespenst ja auch in einem Türschloss wohnen könnte. Ich habe mich sofort hingesetzt und diese Anfangsszene geschrieben, wie Paul den Zippel entdeckt." Eigentlich heißt das kleine Gespenst ja ganz anders. Aber weil es so einen unaussprechlichen Namen hat, nennt Paul es einfach "Zippel" - nach dessen Lieblingsfluch "Zippelzefix". "Grüffelo"-Zeichner Axel Scheffler konnte für die Illustrationen gewonnen werden. Das Buch verkaufte sich 45000 Mal und wird nach dem Erscheinen in Großbritannien noch in weitere fünf Sprachen übersetzt. Eine Fortsetzung ist für nächstes Jahr geplant. Dann wird Zippel mit seinem Freund Paul das Oktoberfest besuchen und Geisterbahn fahren.

 

Also: Der "Zippel" fand auch oder gerade in Corona-Zeiten seine Leser. Aber Gigaguhl? Der kleine Film sollte Werbung für den blauen Riesen sein - und wurde beste Unterhaltung fürs Kinderzimmer im Lockdown.

Erst ein winziges Schlossgespenst, jetzt ein blaubärtiger Riese - woher kommt die Vorliebe für das Magische und Märchenhafte? Alex Rühle lacht: "Weiß ich auch nicht. Vielleicht weil für Kinder die ganze Welt magisch ist. Und sicher auch als eine Art Gegenzauber. In meinem Beruf muss man sich ja in erster Linie mit der Wirklichkeit auseinandersetzen. Es geht um ernste Themen. Da darf auch kein Fehler passieren. In meinen Kinderbüchern kann ich erzählen, was ich will. Es muss nur spannend und lustig sein." Beides trifft auf den "Gigaguhl" hundertprozentig zu. Auch hier war es so, dass der erste Vers eines Nachts plötzlich da war: "Gigaguhl Gargantua war der größte aller Riesen." Alex Rühle schrieb den Satz auf einen Zettel, der in der Obstschale landete. Am nächsten Morgen fiel ihm dazu der nächste Reim ein.

Obwohl er Gedichte liebt und für seine Kinder viel gereimt hat, war die Arbeit an dem neuen Projekt von vielen Flüchen begleitet: "Das ist ja das engste sprachliche Korsett, das man sich anlegen kann. Es muss stimmen, trotzdem lustig sein, geschmeidig wirken und dann noch aufgehen am Ende. 48 Strophen - da läuft man schon oft in Sackgassen."

Weil er die Arbeiten der Illustratorin Barbara Yelin so schätzt - etwa für ihre Graphic Novel "Irmina", die auf der Geschichte ihrer eigenen Großmutter basierte -, fragte Alex Rühle sie für sein Gigaguhl-Projekt an. Sie sagte zu. Als der Autor dann die ersten Skizzen sah, war er "völlig überrascht": "Ich hatte mir den Gigaguhl ganz anders vorgestellt. Bei ihr war er von Anfang an blau. Ich musste meinen Text dann hier und da noch anpassen. Aber ich fand es super", berichtet Alex Rühle. "Text und Bild sind wirklich gleichberechtigt."

Und dann kam "Willipeter Millimeter, der kleinste aller Zwerge". Auf einer Radtour ist er ihm eingefallen. Und weil der "Gigaguhl" doch sowieso ein Buch über Größenverhältnisse ist, hat er ihn noch auf die letzte Seite geschmuggelt. Als Bildersuchrätsel verführt er jetzt große und kleine Leser, noch mal zurückzublättern und ihn im Getümmel oder am Blattrand zu erspähen. Vielleicht der Auftakt zu einer neuen Reise ins Zwergenreich? Alex Rühle lacht. "Wir überlegen tatsächlich, ob der Willipeter auch ein Buch bekommen könnte. Aber davon existiert noch keine Zeile."

DK


Alex Rühle: Gigaguhl und das Riesen-Glück, dtv junior, 40 Seiten, 14,95 Euro, ab 4 Jahren. Den sehr empfehlenswerten Bilderbuchfilm (11 Minuten) findet man auf der dtv-Verlagsseite und auf Youtube.

Anja Witzke