Stuttgart
Tschaikowsky ernst nehmen

Currentzis dirigiert russische Meister mit den SWR-Symphonieorchester

16.12.2018 | Stand 23.09.2023, 5:25 Uhr
Schicksalsmusik: Teodor Currentzis dirigiert Tschaikowsky. −Foto: SWR

Stuttgart (DK) Teodor Currentzis ist anders.

Was immer er dirigiert, er nimmt dabei eine extreme Position ein, lässt die Werke erklingen, wie man sie noch nie vernommen hat. Aber die Neuerungen, die ungewöhnlichen Momente sind alles andere als Gags, um sich wichtig zu machen. Currentzis nimmt man jederzeit die Ernsthaftigkeit seiner Interpretation ab.

Bei seinem zweiten Konzert als Chefdirigent des SWR-Symphonieorchesters hat Currentzis ein rein russisches Programm ausgewählt: todesnahe, schicksalhaft pochende Musik. Zunächst das Bratschenkonzert von Alfred Schnittke aus dem Jahr 1985 und als Hauptwerk danach die 5. Sinfonie von Peter Tschaikowsky - ein Werk, das Currentzis schon rein äußerlich ungewöhnlich angeht, nämlich rekordverdächtig schnell. Der Andante-Einleitungsteil, das schwermütige Schicksalsmotiv der Klarinetten, das die ganze Sinfonie durchzieht, kommt mir fast atemloser Schnelligkeit daher, Ausdruck der Getriebenheit, der Unruhe. Der erst Höhepunkt ist gewaltsam und hektisch, keinesfalls wie ein majestätisches Naturereignis wie in vielen anderen Deutungen.

Allmählich verändert Currentzis den Charakter seines neuen Orchesters, das allerdings noch längst nicht so feinnervig, so durchsichtig und rau wie das von ihm gegründete Ensemble MusicAeterna klingt. Und doch: Sein Tschaikowsky scheint alle Traditionen und Vorurteile, die mit diesem Komponisten verbunden sind, hinwegzufegen. Zu hören ist definitiv ein Tschaikowsky, der nicht unter gefühligem Kitschverdacht steht. Sondern wirkliche Seelenmusik, die Currentzis bis ins letzte Detail erschütternd ernst nimmt. Der Grieche kratzt am soften Lack der philharmonischen Oberfläche, lässt das Orchester mal hart und prägnant, dann wieder voll glühender Intensität, brutal laut, unruhig getrieben oder tänzelnd leicht musizieren. Aber selbst in dem scheinbar optimistischen E-Dur-Aufbruch des Finales ist so viel Hastigkeit, so viel vulkanischer Überschwang, dass man unwillkürlich dem glücklichen Ausgang der Sinfonie misstraut. Currentzis' Deutung ist vielleicht deshalb so bedeutend, weil sie diese Musik komplexer ausleuchtet, die Musiker expressiver spielen lässt, als man es je gehört hat. Weil er den Staub der vermeintlich schwelgerischen Romantik wegwischt und zur depressiven Essenz dieser Sinfonie aufbricht.

Vor der schicksalshaften Tragödienmusik Tschaikowskys stand der Viola-Virtuose Antoine Tamestit im Mittelpunkt, der mit viel Wendigkeit die polystilistische Künstlerbiografie des Komponisten Schnittke ausleuchtete. Eine Musik, die mit thematischen Septim- und None-Klängen eisige Fremdheit thematisiert, dann durch glühende Klangwelten und irrelaufende Walzerseligkeit tänzelt und bis zum auskomponierten Todeshauch reicht. Und von Currentzis aufmerksam, farbenprächtig begleitet wurde.

Nach dem Tschaikowsky, bei dem Currentzis erneut wie ein Messias gefeiert wurde, ging das Konzert überraschend weiter - mit Kammermusik. Musiker des Sinfonieorchesters spielten Dmitri Schostakowitschs Streichquartett op. 110 - so energiegeladen, als wären sie von Currentzis infiziert. Und auch für den Dirigenten war der Abend noch nicht zu Ende. Noch bis zwei Uhr nachts moderierte er seine neue Hörfunksendung "Currentzis' Midnight Lounge".

Man spürt die Aufbruchsstimmung im Orchester. Nach jedem Currentzis-Konzert geht das Orchester auf Tournee, spielt nun regelmäßig in der Elbphilharmonie und gastiert im Sommer sogar bei den Salzburger Festspielen. Currentzis ändert alles.

Ein Video des Konzerts findet sich auf swrclassic. de.

Jesko Schulze-Reimpell