Ingolstadt
Traum und Drama

Mariella Haubs und Vardan Mamikonian beim Konzertverein Ingolstadt

24.10.2019 | Stand 23.09.2023, 9:08 Uhr
Große Sonaten großartig interpretiert: Mariella Haubs und Vardan Mamikonian im Ingolstädter Festsaal. −Foto: Schaffer

Ingolstadt (DK) "Quasi come d'un concerto" - fast wie ein Konzert komponiert - hat Ludwig van Beethoven auf das Titelblatt seiner "Kreutzer-Sonate" geschrieben: ein Stück, das wegen seiner Wildheit, seiner Experimentierlust, seiner Zügellosigkeit aus dem Rahmen fällt.

Den russischen Schriftsteller Leo Tolstoi hat es zu seinem berühmtesten Werk gleichen Titels inspiriert. Als der Held der Novelle, Posdnyschew, beobachtet, wie seine junge Frau einen befreundeten Geiger am Klavier bei dieser Sonate begleitet, kocht in ihm die Eifersucht hoch. Er spürt, dass man dieses gefährliche Stück nicht im Salon spielen kann, nicht "inmitten dekolletierter Damen", "die hinterher Beifall klatschen, Gefrorenes essen und über die letzte Skandalgeschichte plaudern. " Er spürte das Existenzielle, das Bedrohliche, das von diesen überspannten Notenzeilen ausgeht.

Wie kann man die Faszination dieser Musik, ihre Naturgewalt heute noch vermitteln? In einer Zeit, in der die Musikgeschichte sich 200 Jahre weiterentwickelt hat, harmonisch kühner, melodisch gewagter ist? Die erste 24 Jahre alte Münchner Geigerin Mariella Haubs gelang das an der Seite des ungleich erfahreneren, in Paris und Ingolstadt lebenden Pianisten Vardan Mamikonian bei ihrem Konzertabend im Ingolstädter Festsaal erstaunlich souverän.

Ruhig wie vor dem Sturm streicht sie die A-Dur-Akkorde des einleitenden Adagio sostenutos, während Vardan Mamikonian, als er das Motiv am Klavier weiterentwickelt, bereits die denkbar größte dynamische Spannweite auslotet. Dann aber, beim Presto, preschen die beiden in halsbrecherischem Tempo durch die Partitur, jagen die Viertel, wird auf Schönklang kaum noch Rücksicht genommen zugunsten einer charaktervollen Rasanz des Ausdrucks. Wobei Haubs fast noch energischer vorgeht als Mamikonian. Wärmer und ruhiger geht es erst wieder in den Variationen des Mittelsatzes zu. Die junge Geigerin zeigt dabei eine Eigenschaft, die sich den ganzen Sonatenabend durchzieht: Sie hat ein untrügliches Gefühl für Melodik, niemals tendiert sie dazu, mit vollmundigem Schönklang die Rundungen der musikalischen Bögen zuzukleistern. Aber der zweite Satz ist auch der einzige Satz an diesem Abend, in dem Haubs spürbar in den hohen Lagen an ihre technischen Grenzen stößt.

Den Schlusssatz gestalten Haubs und Mamikonian erneut in wildem Tempo, mit rhythmischem Drive.

Ausschließlich weltberühmte Meisterwerke haben die beiden Interpreten an diesem Abend für den Konzertverein aufs Programm gesetzt. Die allerdings alle einen sehr unterschiedlichen Charakter aufweisen. Die Kreutzer-Sonate ist dabei das ruppigste Werk, eine musikalische Groteske, ein Höllenritt. Wärme und Dramatik strahlt dagegen die d-Moll-Sonate von Johannes Brahms aus, während die Violinsonate von Leo? Janá? ek viel folkloristische Liedhaftigkeit vermittelt. Die Sonaten von Brahms und Janá? ek spielen die Künstler absolut fesselnd. Wunderbar die träumerische Melodik beim Janá? ek, die immer wieder von nervösen Violineinwürfen attackiert wird. Haubs und Mamikonian gestalten das mit größter Finesse, Sinn für große Zusammenhänge, voller interessanter Details.

Ähnlich gehen sie auch die Brahms-Sonate an. Haubs vermeidet auch hier einen allzu großen, undifferenzierten Ton. Bereits das Thema des Kopfsatzes spielt sie hochgespannt mit überraschend schlankem Ton und voller an- und abschwellender Töne - absolut faszinierend. Das Adagio gestalten die beiden oft erstaunlich leise und zurückhaltend. Während im Finale sich unbändige Energie entlädt, gerade Haubs spielt unglaublich vorwärtsdrängend und kontrastreich. So laut und ungestüm Haubs Ausdruck sein kann - faszinierender, spannender, variantenreicher sind ihre betörend leisen, schlanken Töne.

Mariella Haubs, die bisher im Konzertbetrieb noch nicht sehr präsent ist, ist eine hochbegabte Geigerin, die Nuancen und Klänge produziert, die Dramatik zu inszenieren weiß, die verblüfft. Eine Geigerin, die musikalisch etwas zu sagen hat.

Jesko Schulze-Reimpell