Ingolstadt
"Trag's mit Fassung oder nimm eine Pille"

Regisseurin Susan Gluth stellt in Ingolstadt ihren Dokumentarfilm "Gestorben wird morgen" vor

27.06.2019 | Stand 23.09.2023, 7:34 Uhr
  −Foto: gluthfilm, Witzke

Ingolstadt (DK) In Sun City scheint die Sonne an 312 Tagen im Jahr.

Das Wetter ist gut für arthritische Knochen. Es gibt kaum Hügel, wenig Treppen, dafür abgeflachte Bordsteine, breite Straßen und vergrößerte Verkehrsschilder. Die Wege zum Einkaufen sind kurz, die Steuersätze niedrig. Es gibt zahlreiche Golfplätze und Sportzentren mit Tennisplätzen und Swimmingpools, 30 Kirchen und eine Synagoge, Palmen, Kakteen, Stars and Stripes. Die Dichte an medizinischem Personal ist hoch, die Kriminalitätsrate niedrig. Es gibt kein Rathaus, keine Schulen, kein Babygeschrei. Denn wer hier leben will, muss älter als 55 Jahre sein.

Sun City ist eine künstlich angelegte Stadt in Arizona, ersonnen von dem amerikanischen Immobilienentwickler Del E. Webb Anfang der 60er-Jahre. Seine Idee: die Erschaffung einer Siedlung, die speziell auf die Bedürfnisse einer alternden Bevölkerungsschicht zugeschnitten sein sollte. 40000 Menschen leben heute hier. Und einige von ihnen hat Susan Gluth in ihrem Dokumentarfilm "Gestorben wird morgen" porträtiert. Am Mittwochabend war die Regisseurin im Audi-Programmkino zu Gast, um sich nach der Vorführung des Films den Fragen des Publikums zu stellen. Experten aus Ingolstadt standen ihr zu diesem Thema zur Seite: Silvia Leithner vom Bürgerhaus, Siegfried Bauer von "Senioren ins Netz! " und Sabine Werner von "AMIR" (Aktive Menschen im Ruhestand).

Vor 15 Jahren schon war Susan Gluth auf einen Fotoband über Sun City gestoßen und wollte einen Film darüber machen, konnte damals aber keine Geldgeber von der Brisanz des Themas überzeugen. Mittlerweile ist längst klar: Die demografische Entwicklung wird unsere Gesellschaft tiefgreifend verändern. Die Menschen werden älter - und das bedeutet große Herausforderungen für Politik und Wirtschaft. Aber lässt sich das Modell Sun City tatsächlich auf deutsche Verhältnisse übertragen? Und wäre das überhaupt wünschenswert? Das Konzept polarisiert - das zeigt sich in der nachfolgenden Diskussion sehr schnell. Während für die einen die Vorteile einer reinen Senioren-Community überwiegen, vermissen die anderen den Generationenmix und alles, was dazugehört. "Sun City ist nicht die Wirklichkeit, wir sollten miteinander leben und uns nicht separieren", sagt etwa Siegfried Bauer, während Silvia Leithner auf die Zufriedenheit der Bewohner und ihre Möglichkeiten bis ins hohe Alter hinweist. Einig sind sich alle auf jeden Fall darin, dass Susan Gluths Film "Gestorben wird morgen" ein perfekter Denkanstoß ist, sich mit dem Alter auseinanderzusetzen und selbstbestimmt Vorsorge für alle Bereiche zu treffen. Wie, wo und mit wem will man seinen Lebensabend verbringen? Was kann man sich überhaupt leisten? Wie sieht es aus mit Patienten- und Betreuungsverfügungen?

Susan Gluths Film ist ein positiver Film. Weil sie ihre Protagonisten mit großer Zuneigung begleitet, sich als gute Zuhörerin in den Gesprächen mit den Senioren erweist, ein feines Gespür für komische, aber auch ganz existenzielle Situationen hat und ihre Kamera diese perfekt einfängt. Da ist Kitty (74), die mit ihrem Mann Roger (75) immer noch Ausflüge auf der Harley-Davidson unternimmt und über das Alter philosophiert. "Wir fragen uns: Wann sind wir alt geworden? " Er darauf: "Wir wollten nicht alt werden, aber es passiert eben. " Da ist Olive (87), die nach einem Sturz beim Rollschuhlaufen körperlich stark beeinträchtigt ist, ihren Führerschein abgeben muss, erste Anzeichen von Demenz zeigt, aber trotzdem ihren kindlichen Humor bewahrt hat: "Ich mache das, was ich kann, wenn ich es kann. " Da ist Betty Jane (90), die im Krankenhaus liegt, aber sagt: "Trag's mit Fassung oder nimm eine Pille, die hilft. " Da ist die Garagenband "One foot in the grave" ("Mit einem Bein im Grab"), die mit viel Selbstironie und hartem Rock gegen ihre Zipperlein anspielt. Da ist Abraham, trotz seiner 101 Jahren fit am Computer.

Sie sprechen über ihren Alltag in Sun City, über die Beziehung zu ihren Familien und unterschlagen dabei auch nicht schwere Themen wie Krankheit, den Verlust des Partners, den eigenen, nahenden Tod. Und doch wirken sie glücklich, fühlen sich geborgen in der Gemeinschaft. Auch gebraucht - weil das Ehrenamt hier eine große Rolle spielt. Neben den eigenen Interessen, die hier in zahlreichen Kursen ausgelebt werden können, hat jeder Aufgaben, die der Gemeinschaft von Nutzen sind, dem Tag Struktur geben, das Selbstwertgefühl stärken.

Und genau das hat sich die Ingolstädter Seniorengemeinschaft "AMIR" auf die Fahnen geschrieben hat, erklärt Sabine Werner: durch zahlreiche Treffen der Einsamkeit entgegenwirken und selbst "Kümmerer" werden für Theater-, Konzert- oder Museumsbesuche. "Jeder hat eine gewisse Verantwortung für sich selbst", fügt Silvia Leithner an. Der Film "Gestorben wird morgen" eignet sich deshalb als perfekter und vor allem unterhaltsamer Ausgangspunkt für eine eingehende Beschäftigung mit dem Thema.

Bis 3. Juli jeweils um 17.30 Uhr im Audi-Programmkino.

Anja Witzke