Erl
Tiroler Rossini-Marathon

Neuanfang nach der Affäre um den langjährigen Intendanten in Erl: "Guillaume Tell" als musikalisches Fest

15.07.2019 | Stand 02.12.2020, 13:30 Uhr
Rossini in Erl: "Guillaume Tell" wird erneut zur Diskussion gestellt. Dieses Mal in der originalen französischen Fassung, mit teilweise neuer Besetzung der zentralen Partien. −Foto: Bender

Erl (DK) Undankbares Amt: Nur ein knappes Jahr dauert die interimistische Leitung von Andreas Leisner bei den Tiroler Festspielen Erl, bis am 1. September Bernd Loebe, unter dessen Intendanz die Oper Frankfurt regelmäßig die Auszeichnung Opernhaus des Jahres erhält, übernimmt.

Der österreichische Dirigent Gustav Kuhn, der den seit 1998 kräftig expandierten Festspielbetrieb gegründet hatte, wurde nach als erwiesen geltenden sexuellen Übergriffen 2018 von allen künstlerischen und administrativen Aufgaben entbunden. Erstmals sind die Tiroler Festspiele Erl mit sofortiger Wirkung verpflichtet, alle Ausgaben von Fördermitteln des österreichischen Bundes (1,15 Millionen im Jahr) und aus Sponsorengeldern nachzuweisen. Bei einer Prüfung wurde entdeckt, dass Kuhn private Heizkosten in Höhe von über 8000 Euro aus der Festspielkasse beglichen hatte.

Mit drei Opern (drei ausverkaufte Vorstellungen von Verdis "Aida" und die mit Spannung erwartete Neuproduktion von Walter Braunfels' Aristophanes-Oper "Die Vögel" unter der musikalischen Leitung von Lothar Zagrosek am 20./27. Juli) sowie Konzerten hält Leisner das aus ganz Österreich und Oberbayern anreisende Publikum in Spannung. Die Wiederaufnahme von Gioachino Rossinis letztem Bühnenwerk "Guillaume Tell" bestätigt Kuhns Ambitionen, Erl nicht nur als Tiroler Bayreuth-Alternative ("Der Ring des Nibelungen" in 24 Stunden), sondern auch als Belcanto-Zentrum zwischen München, Salzburg und Verona zu etablieren.

Diese einzige Vorstellung von "Guillaume Tell" im Sommer 2019 glich einem riskanten Ritt über den Vierwaldstätter See. Das mindestens dreieinhalb-stündige Werk, ein für die Pariser Oper 1829 entstandener Meilenstein der Gattung, war 2016 in Erl in italienischer Sprache herausgekommen und wurde jetzt in der französischen Originalsprache einstudiert. Ein Diamant, der im aktuellen internationalen Trend zur Reaktivierung des Genres Grand'Opéra umso stärker strahlt, aber deshalb auch einer äußerst gewissenhaften Politur bedarf. Diese war in den bisher meist äußerst knappen Probenzeiten und dem in Erl extrem harten sängerischen Wettbewerb durch Mehrfachbesetzungen ohne vertraglich gesicherte Auftrittsbestätigung nicht immer gegeben. Trotzdem wurde der Abend ein Fest: In der Produktion des Kollektivs Furore di Montegral bleibt die trotz auffallend kleiner Tenor-Gruppe ausgezeichnete Chorakademie unter der Leitung von Olga Yanum nur visuell im Hintergrund. Acht fahrbare Skulpturen, auf denen menschenähnliche Oberkörper aus machtvollen Baumstämmen ragen, sind Elemente der Ausstattung Alfredo Troisis, der - wie Lenka Radeckys Kostüme in Erdfarben und Waldgrün - die rurale Verwurzelung der Schweizer im Widerstand gegen die Österreicher und ihren von vier langhaarigen Groupies umwuselten Landvogt Gessler (vokaler und szenischer Stier: Giovanni Battista Parodi) vorführt. Stark das achtköpfige Tanzensemble in der Choreografie von Katharina Glas, das mit kreativer Multistilistik weitaus mehr als den grazilen Pas de Six beherrscht und die im ersten Akt umfänglich ausgebreitete Schweizer Idylle mit feinen ironischen Funken garniert. Der Verzicht auf Rossinis Tyrolienne und den berühmten Tanz der österreichischen Soldateska ist in dieser als "weitgehend ungestrichen" angekündigten Aufführung umso mehr bedauerlich. Michael Güttler holt mit den Musikern den Glanz, die Genialität und die himmlisch langen, epischen Dimensionen aus der Partitur, deren sorgfältige Gestaltung alle gegen Rossini erhobenen Vorurteile von ästhetischer Unbedenklichkeit Lügen straft. Die eher getragenen und dabei immer richtigen Tempi sind unterfüttert mit einer ausgezeichneten Balance der Instrumentalstimmen. Vor allem ermöglicht Güttler den Sängern in ihren exorbitant schwierigen Partien optimale Entfaltungsmöglichkeiten. Einziges Handicap ist der lässige Umgang mit der französischen Diktion, dafür erlebt man kultivierten Belcanto in Bestform.

Die Glanzlichter sind dabei etwas verschoben. Die Goldmedaillen dieses Rossini-Marathons gehören dem dunklen Sopran Bianca Tognocchis als Tells Sohn Gemmy knapp vor der stark höhenorientieren Georgierin Sophie Gordeladze im Primadonnen-Part der Mathilde, dem die Kuhreigen-Romanze des Fischers hinreißend gestaltenden Matteo Macchioni im Kopf-am-Kopf-Rennen knapp vor dem weitaus intensiver geforderten Arnaud von Sung Min Song. Außer Konkurrenz Andrea Borghini in der Titelrolle: Ein Sympathieträger mit schön fokussiertem, sanftem Bassbariton und gewinnend starker Arie vor dem Apfelschuss.

Immer wieder droht über der Szene eine riesige Armbrust wie eine auf den schweizerisch-österreichischen Krisenherd gerichtete Mittelstreckenrakete. Sie steht in schroffem Kontrast zur packend edlen und, was bei "Guillaume Tell" sehr viel ist, nahezu perfekten musikalischen Gesamtleistung.

Das komplette Programm und Infos über Tickets findet man unter www.tiroler-festspiele.at.