Augsburg
Tausendundeine Erlöserin

"Das Spiel der Schahrazad" am Theater Augsburg zelebriert die Macht des Erzählens - Sehenswerte Inszenierung

29.05.2018 | Stand 23.09.2023, 3:22 Uhr
Nimbus des Märchenhaften: Anatol Käbisch als Sultan, Linda Elnser als Schahrazad im Theater Augsburg. −Foto: Foto: Fuhr

Augsburg (DK) Sie ist die Urmutter des Geschichtenerzählens: Tausendundeine Nacht brauchte Scheherezade, um den Sultan von seiner Grausamkeit und seinem Wahn zu heilen, jede Nacht eine Frau zu töten, um den ehebrecherischen Betrug seiner ersten Gemahlin wieder und wieder zu rächen. Sie rettet so ihr eigenes Leben und das vieler anderer Frauen. Die heilende und erlösende Kraft von Geschichten stellt Ferdi De?irmencio lu im Theater Augsburg in den Mittelpunkt einer ungewöhnlichen Inszenierung. Denn "Das Spiel der Schahrazad" zeigt im Grunde mehr die Macht des Wortes, also der Literatur, als die des Theaters.

Der türkische Dichter Turgay Nar hat in seinem schon vor über 20 Jahren geschriebenen Stück die Dimensionen des Ursprungsmärchens gedehnt und erweitert. Nicht der aus Eifersucht herbeigeführte Ehebruch der Gemahlin treibt seinen Sultan in den Wahn. Es ist die Unkenntnis seiner Wurzeln, seiner Familiengeschichte. Absichtlich wird er vom letzten verbliebenen Vertrauten, dem Wesir, im Unklaren darüber gelassen. Kein anderer vermag darüber Auskunft zu geben.

Alter Stoff in stark psychologisiertem Gewand: Wer nicht weiß, wo er herkommt, der weiß nicht, wer er ist. Wessen Familie mit Geheimnissen und Ungesagtem belastet ist, vermag sich nicht zu befreien.

Der Nimbus des Märchenhaften wird gleich zu Beginn des Abends abgeschüttelt: Hier wird keiner glücklich und zufrieden leben bis an sein Ende. Im aus Knochen gebauten, von Blut über und über besudelten Bett (Bühne Mitra Nadjmabadi) wird eine der Jungfrauen vergewaltigt. Daneben steht der Helfershelfer, ein Sklave mit herausgeschnittener Zunge und abgeschlagenen Fingern. Aus dem Brunnen fließt Blut. Abend für Abend verlangt der fahrige, haltlose Sultan -, Anatol Käbisch halb als unreifer Junge, halb als Psychopath -, eine weitere Sklaventochter, deren Leichen unheilvoll vom Bühnenhimmel baumeln. Die Erde bebt, das Reich droht an dieser Verrottung zugrunde zu gehen. Da verlangt der Sultan noch mehr: Die Tochter des Wesirs soll die nächste sein.

Doch die belesene Schahrazad will nicht nur ihr eigenes Leben retten: Sie will die anderen Jungfrauen vor dem Tod bewahren; das Land erlösen, das im Blut ertrinkt, und mit ihm den Sultan selbst, jenen Herrscher, der sich selbst verloren hat und der ein Freund aus Kindertagen ist. Und so erzählt sie - wie die echte Scheherazade - das wahre Märchen von der Familie des grausamen Sultans. Erst hier kommt die Inszenierung, die anfangs wenig greifbar und langatmig daherkommt, auf den Punkt. Dafür umso gelungener. Linda Elsner verkörpert die kluge, aufklärerische, mutige Schahrazad mit genau jener Poesie, die die Macht des Erzählens wunderschön aufzeigt. Es helfen das weiche Licht und die weißen, fließenden Gewänder, die sie umspielen (Kostüme Imme Kachel), doch Linda Elser bemächtigt sich vor allem der Sprache dieses dichten, bildhaften, deklamatorischen Textes auf sehr kunstvolle Art. Wie unter Schahrazads Anleitung Wirklichkeit und Erzählung einander auf der Bühne begegnen, mehr noch: miteinander in Dialog treten, ist Turgay Nars, vom Regisseur selbst übersetzte und trefflich ins Bild gesetzte Hommage an die Kraft des Wortes.

Zugleich trägt der Text reichlich Bezug zur Gewalt im Zeitgeschehen in sich. Aber vielleicht hat die Welt zu viele Männer gesehen, deren herrschsüchtiges Treiben ganze Völker ins Verderben geführt hat, so dass Kriegstreiber mit und ohne staatliche Würden schwer als die gequälten Opfer ihrer Handlungsunfähigkeit zu akzeptieren sind.

Auch die Idee, dass es die Frauen sind, die die Welt zu einem besseren Ort machen können, ist nicht neu. Das Spiel der Schahrazad hinterlässt trotzdem den Eindruck, dass ein Wort in der Weltgeschichte viel zu kurz gekommen ist: Erlöserin. Der Macht der Erlösung werden auf der Bühne des Theaters Augsburg Grenzen gesetzt. Die Macht des Erzählens feiert dafür ein sehr sehenswertes Fest.

Nächste Aufführungen am 1., 2., 16. und 21. Juni. Infos unter www,theater-augsburg.de.

Carina Lautenbacher