Erl
Sinnliche Dekadenz

"Die Vögel" von Walter Braunfels bei den Tiroler Festspielen Erl

21.07.2019 | Stand 02.12.2020, 13:27 Uhr
Meisterhafte Musik: Szene aus Walter Braunfels' "Die Vögel". −Foto: Tiroler Festspiel

Von Roland Dippel

In den letzten Jahren kommt es wieder vermehrt zu Aufführungen von Braunfels' Bühnenwerken. Seine Oper "Der Traum ein Leben" nach Grillparzer gelangte erst 2001 am Theater Regensburg zur posthumen Uraufführung. Braunfels' "Szenen aus dem Leben der heiligen Johanna" an der Deutschen Oper Berlin 2008 war das letzte Konzept des früh verstorbenen Christoph Schlingensief.

Braunfels machte etwas ganz anderes aus Aristophanes' bösem Satyrspiel über Borniertheit, wankende Machtstrukturen und ein von kleinlichen Interessen torpediertes Staatsgebilde: In seiner 1913 begonnenen, durch den ersten Weltkrieg unterbrochenen Komposition des "lyrisch-fantastischen Spiels" auf ein eigenes Textbuch geht es um die Weltfremdheit ästhetisierender Eliten und die Sehnsucht nach dem Fremden. "Die Vögel" hält in Hinblick auf melodische Fülle, orchestralen Glanz und dramaturgische Gedrängtheit den Opern von Richard Strauss problemlos stand.

Auch deshalb reagierte das Publikum mit begeisterten Ovationen. Interimsleiter Andreas Leisner zeigt, welchen konzeptionellen Erfolgsweg die Tiroler Festspiele unter Bernd Loebe in der Mitte des Festspieldreiecks Innsbruck, München, Salzburg nach der Demission Gustav Kuhns nehmen könnten: Als Ausnahmeort für Ausnahmeopern wie "Die Vögel" oder "Guillaume Tell". Höhepunkt der Premiere: Die Begegnung des verklemmten Intellektuellen Hoffegut mit der wundersamen Primadonna Nachtigall ist eine hymnisch-schmerzliche Kernverschmelzung von Sinnlichkeit und Poesie. In dieser großartigen Liebes- und Erweckungsszene ziehen Bianca Tognocchi und Marlin Miller überwältigend schön alle Register: Gesang als Synthese von Sex und Metaphysik, Rausch und Verletzungsrisiko. Braunfels' Nachtigall ist Wagners Waldvögelein und Strauss' Zerbinetta in Personalunion und Hoffegut ein Siegfried, welcher der Vöglein Sang am Ende nicht mehr versteht. Prometheus taucht in Erl auf wie der Klon aus Walvater Wotan und Charles Bukowski (Idealbesetzung: Thomas Gazheli). Dieser warnt die Vogel-Gesellschaft vor leichtfertiger "splendid isolation" in ihrer zwischen den Göttern oben und Menschen unten schwebenden "Burg".

Die Verortung der Vogel-Gesellschaft durch die Regisseurin Tina Lanik mit der spielfreudigen Chorakademie/Capella Minsk (Einstudierung: Olga Yanum) bringt weitaus mehr als visuelle Gefälligkeit: Vögel sind auch Menschen. Tina Lanik, der Nürnberg eine packende "Butterfly" verdankt, operiert wie für eine intelligente Operette: Aus dem hellen Zuschauerraum kommen der spießige Ratefreund im Trachtensakko mit vokaler Deftigkeit (Julian Orlishausen) und der nerdige Hoffegut auf die Bühne. Schauplatz: Ein Saal mit gekennzeichneten Notausgängen. In diesen setzte Stefan Hagemeier ein Podest und darauf eine Raumschachtel als Künstlergarderobe und Kreativzelle. Das Theaterkollektiv "Die Vögel" hält sich für den Nabel der Welt.

Aber bald ist es aus mit dem Backstage-Wunder, in dem der Chor mit Klavierauszügen wirft und selbstgefällige Autonomie feiert. Erst illustrieren Heidi Hackls schöne Abendkleider die poetische Verwandlungskunst. Am Ende aber füllen zugeknotete Plastiksäcke den Saal. Vorbei der Zauber vom "Leben der Anderen", in dem sich Ratefreund lässig, Hoffegut aber mit Leib und Haaren verliert. Visionen, Probe, Spiel und innere Wahrheit verwirbeln sich wie Braunfels' meisterhafte Partitur, in der Chor und Soli sich durch üppige Klanggemische vereinen.

Sehr gut sie alle: Adam Horvath (Zeus/Adler), Sabina von Walther (Zaunschlüpfer), James Rosen (Wiedehopf, der zum Vogelkönig, hier also Theaterchef gewordene Mensch), Attila Mokus (Rabe), Giorgio Valenta (Flamingo), Svetlana Kotina (Drossel), Lauren Urquhart (Nachtigall 2).

Lothar Zagrosek, der in der Decca-Reihe Entartete Musik "Die Vögel" 1996 eingespielt hatte, ermutigt die Streicher zu mehr Unruhe. Das aus internationalen Musikerinnen und Musikern zusammengesetzte Orchester der Erler Festspiele zeichnet sich durch einen jungen, geschmeidigen und profunden Klang aus. Zagrosek musiziert ein echtes Festspiel: Luxus, dessen Gefährdungen Tina Lanik menetekelnd bebildert. Nur zwei Vorstellungen dieser Produktion sind zu wenig - wieder am 27. Juli! Zum Jahreswechsel gibt es in der Winterausgabe der Erler Festspiele "Rusalka" und "Der Liebestrank".

ZUM STÜCK
Theater:
Festspielhaus Erl
Musikalische Leitung:
Lothar Zagrosek
Regie:
Tina Lanik
Bühne:
Stefan Hageneier
Kostüme:
Heidi Hackl
Vorstellung:
27. Juli
Karten:
+43 (0)53 73 / 81 000 20.