Eichstätt
Satire auf die liberale Leistungsgesellschaft

"LiteraPur18": Helmut Krausser liest aus seinem neuen Roman "Geschehnisse während der Weltmeisterschaft"

18.05.2018 | Stand 23.09.2023, 3:17 Uhr
Helmut Krausser thematisiert in seinem neuen Roman die vollständige Sexualisierung einer zukünftigen Gesellschaft. −Foto: Foto: Buckl

Eichstätt (DK) Ein Mann liebt eine Frau. Er kann nicht nur, er muss sogar mehrfach täglich mit ihr schlafen, doch nur im Rahmen sportlicher Wettkämpfe. Sie bleibt ihm gegenüber emotional distanziert. Erst als er sich inkognito zum Paria macht, kommt er ihr per E-Mails nahe: Dieser skurrile Plot findet sich im neuen Roman des in Berlin lebenden Autors Helmut Krausser: "Geschehnisse während der Weltmeisterschaft". Am Donnerstagabend stellte er ihn beim Eichstätter Lesefestival "LiteraPur18" im kleinen Kinosaal des Alten Stadttheaters vor.

Eine knappe Stunde lang liest der Autor Passagen aus diesem Buch vor, die er chronologisch eigenwillig anordnet: Es gibt zunächst Leseportionen aus dem ersten Drittel des Romans, in dem es um Leon und Sally geht, ein berühmtes Profi-Paar des "Teams Berlin", das 2028 bei der 11. Weltmeisterschaft in "Leistungssex" im "restliberalen Dänemark" antritt. Rund um das schwerbewachte Hotel der Sportler in Kopenhagen toben Straßenkämpfe und Demos. Zu Beginn der Handlung freilich sucht der Ich-Erzähler erst einmal die Einsamkeit einer Blockhütte im Nordnorwegen, wo der weltberühmte Star das Untertauchen genießt, sein Handy vergräbt und das Kabel des Aufladegeräts mit der Schere durchschneidet. Eher aus Langeweile erschießt er aus der Hütte heraus einen lauernden Wolf. Als Lektüre hat er Hitlers "Mein Kampf" dabei: Der Protagonist "steht allem Denken offen, auch dem ultrarechten", erklärt Krausser in der Diskussion nach der Lesung. Es wird deutlich, dass diese Romanfigur auch psychische Probleme hat, "Eruptionen", während derer sie unkontrolliert handelt.

Sein Partnerin im Leistungssex nennt er Shasha, und da dem Paar aus Gründen der Effizienz sportlich vorgeschrieben ist, einander fremd und gefühlsneutral zu bleiben, er aber heimlich in sie verliebt ist, nimmt er ein Alter Ego an und schlüpft in die Rolle des Rollstuhlfahrers Noel, dem es gelungen ist, die private Mailadresse der Partnerin zu hacken. Jetzt als Invalide kann er Sally alias "Shasha" tatsächlich Persönliches und Emotionales entlocken, kommt er ihr seelisch nahe. Erst in einem zweiten Durchlauf aus dem Buch trägt Krausser Auszüge aus diesem Mail-Verkehr vor. Beim bedächtigen Lesen mit rauher Stimme gestikuliert er dabei unentwegt mit der rechten Hand über den Seiten, wobei er beim Lesen physiognomisch wirkt wie eine Mischung zwischen Sting und Jack Nicholson.

Die erste Frage aus dem Publikum ist vorhersehbar: "Wie kommt man auf einen solchen
Stoff? " Krausser hält ihn für realistisch: Es gebe schließlich Wettkämpfe im Baumwerfen und im Kirschkernspucken - da werde auch Leistungssex einmal kommen, vielleicht mit Liebesverbot. Sein Buch sei aber im Grunde "eine ganz zarte Liebesgeschichte". Trotzdem sieht Krausser sich nicht als Romantiker: "Ich habe keine retrospektiven Illusionen! " Bewusst gewählt sei das Jahr 2028 als nicht allzu ferne dystopische Zukunft - Europa sei nach rechts gerückt, es gab Attentate und Umstürze. Näheres dazu sagt das Buch nicht.

Sein Roman ist ausgesprochen affin gegenüber Missverständnissen: "Sie sollten ihn nicht lesen, wenn Sie nach erotischen Abenteuern suchen", empfiehlt Krausser, um dann deutlicher zu werden: "Er ist als Masturbationsvorlage ungeeignet. " Krausser ist frustriert über die fehlende Rezeption im Feuilleton - es erscheinen kaum Kritiken über das Buch, und wenn, dann hilflose oder bewusst ironische: "Die ,Taz' hat eine rein sachliche Zusammenfassung des Inhalts gebracht - und zwar im Sportteil! " Heiterkeit kommt auf beim Publikum, als Krausser dies resigniert zu Protokoll gibt.

Walter Buckl