Ingolstadt
Poetisch und präzise

Iris Wolff erhielt gestern den 16. Marieluise-Fleißer-Preis der Stadt Ingolstadt

24.11.2019 | Stand 23.09.2023, 9:36 Uhr
Schreibt gegen festgefahrene Bilder und Meinungen sowie das Vergessen an: Die in Siebenbürgen aufgewachsene und 1985 mit ihrer Familie nach Deutschland emigrierte Schriftstellerin Iris Wolff warb in ihrer Dankesrede zum Fleißerpreis für das Lesen. −Foto: Weinretter

Ingolstadt (DK) Einen Tag nach dem Geburtstag von Marieluise Fleißer (23. November 1901 bis 2. Februar 1974) erhielt die Schriftstellerin Iris Wolff den 16. Fleißer-Preis der Stadt Ingolstadt im Rahmen einer Feierstunde im Foyer des Stadttheaters aus den Händen von Oberbürgermeister Christian Lösel.

Insbesondere in ihrem Roman "So tun, als ob es regnet" (2017) erzähle Wolff "von den Schrecken des 20. Jahrhunderts, die sie in den Biografien der Individuen poetisch verdichtet beschreibe, wie man sie in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur sehr selten findet", zitierte OB Lösel das Urteil der Fleißer-Preis-Jury 2019 bei der Überreichung der Urkunde. Er führte weiter aus, obwohl alle Romane Wolffs ("Halber Stein", 2012, und "Leuchtende Schatten", 2015) stets mit ihrer Heimat Siebenbürgen verbunden seien, entfalte die Schriftstellerin mit ihren realistischen Bildern von den Verletzungen und Sehnsüchten ihrer Romanfiguren ein gesamteuropäisches Panorama. Sie eröffne so ihren Leserinnen und Lesern einen literarischen Zugang zur neueren Geschichte.

"Selbst 100 Fernsehsendungen über die Geschichte Siebenbürgens und Europas im 20. und 21. Jahrhundert können nicht das leisten, was die interkulturelle Literatur von Iris Wolff, was ihr dichterischer, spielerischer und bezaubernder Umgang mit Sprache, was ihr genauer, vertrauter, liebender Blick, ihr Sprachrhythmus, ihre so poetische wie präzise Sprache vermögen", griff Laudator Klaus Hübner vom Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas der Ludwig-Maximilians-Universität München die Worte Lösels auf.

Wolff erzähle achtsam, klage nicht an, führte Hübner aus und belegte mit Beispielen aus allen drei Romanen, wie sie in der präzisen Beschreibung kleiner, unscheinbarer Momente einen ganzen Lebenslauf auffunkeln lasse. Unter anderem werden die Schrecken eines Schlachtfeldes umso deutlicher, indem Iris Wolff von Siebenbürgen als jenem Land erzähle, in dem man "in drei Sprachen die Liebe erklären kann". Im Dialekt und in der Mehrsprachigkeit erschaffe sie Erinnerungsorte , die "uns in die Vergangenheit und Zukunft blicken lassen".

Die Fleißer-Preis-Trägerin selbst schilderte anschließend in ihrer Lesung, wie dieser "Iris-Wolff-Sound" (Hübner) entsteht. Jenes "so tun, als ob es regne", das Vorgeben, "versunken und abwesend zu sein", das im dritten Roman nicht nur titelgebend ist, sondern ihre Protagonistin Henriette praktiziert, habe auch sie selbst schon früh, während ihrer Schulzeit geübt, später dann perfektioniert. So habe sie sich die Fleißer'schen "Fluchtwege im Kopf" geschaffen. Der Schreibprozess bedeute, sich die Welt anzueignen, indem man ihr entkomme. "Erzählen ist ein offener Erkenntnisprozess", zitierte Wolff die Fleißer-Preis-Trägerin Petra Morsbach (2001) und Wolff fügte hinzu: Lesen auch.

Poesie schaffe ein Gegengift zu den heute oft so festgefahrenen Bildern und Meinungen - über Menschen, über die Gesellschaft, über Länder und Kulturen. Solche Bilder vermittelten eine trügerische Sicherheit und verhinderten damit die Offenheit für das Unsichtbare, für eine andere Wahrheit. Schreiben und Lesen dagegen ermöglichten Veränderung. Literatur verwandele das Äußere ins Bewusstsein, gebe die Chance für neue Bilder, und zwar für wahrhaftige und ambivalente.

"Lesen Sie Bücher über Landschaften, Orte und Menschen, die Sie nicht kennen. Halten Sie aus, wenn die Sprache sich vom Alltag unterscheidet", lud Wolff das Publikum im fast schon überfüllten Theaterfoyer ein. Und sie mahnte charmant, nachdem sie dies mit Beispielen aus dem Werk Marieluise Fleißers und weiterer Autoren belegt hatte: "Einem Schriftsteller muss man nichts glauben, aber man kann. "

Nach Béla Bartóks "Rumänischen Tänzen", gespielt vom Streichquartett des Georgischen Kammerorchesters Ingolstadt, das die Feierstunde musikalisch begleitet hatte, sagte Iris Wolff im Gespräch mit unserer Zeitung, dass sie sich bereits auf das nächste Jahr freue. Dann könne sie nicht nur das Geburtshaus von Marieluise Fleißer auch von innen sehen - OB Lösel hatte darauf hingewiesen, dass die Eröffnung im April geplant sei. Iris Wolff wurde von der Stadt auch eingeladen, das Programm der Ingolstädter Literaturtage 2020 künstlerisch zu begleiten.

Barbara Fröhlich