Augsburg
Platon in der virtuellen Realität

Rainer Werner Fassbinders Science-Fiction-Thriller "Welt am Draht" am Theater Augsburg<?ZE>

30.04.2018 | Stand 23.09.2023, 3:05 Uhr
Was tun in Zeiten von Big Data? Roman Pertl und Gerald Fiedler in David Ortmanns Inszenierung in Augsburg. −Foto: Foto: Fuhr

Augsburg (DK) Virtuelle Welten, Künstliche Intelligenz, die Auflösung der Wirklichkeit, das Verschwimmen der Realität zwischen Fakten und Fake news, das Verwischen von Identität und Persönlichkeit, der Abschied vom mündigen Bürger gar.

Längst ist uns das alles geläufig, vielleicht zu geläufig und "normal". Dabei kann man das totalitäre Potenzial der Digitalisierung gerade erst erahnen. Zeit also, dass sich bei uns wieder Befremden darüber einstellt, dass wir längst in schönen neuen Welten leben.

Im Theater Augsburg wird dieses Befremden durch Verfremdung erzeugt, und die Verfremdung entsteht durch zeitliche Distanzen. Denn Rainer Werner Fassbinders Drehbuch "Welt am Draht" aus dem Jahr 1973 liegt der Roman "Simulacron-3" von Daniel F. Galoye aus dem Jahr 1964 zugrunde. Die Zukunft, die damals imaginiert wurde, ist mittlerweile Gegenwart, was damals Science Fiction war, ist heute (fast) Realismus. David Ortmann (Regie) und Sabine Schmidt (Bühne und Kostüme) spielen mit dieser zeitlichen Distanz. Die Szenerie in der Augsburger Brechtbühne hat Retro-Charme. Die leicht unterkühlte Holz-Studio-Atmosphäre, sprechende Computer mit Alexa-Stimme, wild zuckende Körper, wenn Personen an die digitale Welt Simulacron angeschlossen werden, die Getränke aus einer Art Lebensmittel-3D-Drucker: So oder ähnlich hat man sich in den 1970ern die Zukunft vorgestellt. Augenzwinkernd zitiert sich Ortmann durch die einschlägigen Genre-Klassiker und staffiert damit eine Bühnenzukunft aus, die nur wenige Jahre von der Gegenwart entfernt ist und gleichzeitig irgendwie verstaubt wirkt. Befremdlich eben.

Die Handlung, versetzt mit Krimi- und Thrillerelementen, variiert das Thema vom Wissenschaftler, der moralische Skrupel angesichts der ökonomischen Ausbeutung seiner Entwicklung hat. Patrick Rupar als Dr. Fred Stiller hat die "Simulacron", Parallelwelt mit künstlichen Identitäten, mitgeschaffen, um dort die Zukunft zu simulieren und eine bessere Welt zu ermöglichen. Sein Chef Herbert Siskins, schön dominant, skrupellos und glatt von Kai Windhövel auf die Bühne gestellt, will dagegen Profit daraus schlagen. Stück für Stück erkennt Stiller die Zusammenhänge seiner Welt mit der simulierten Welt beziehungsweise ahnt er, dass genau das eine Illusion ist. Oder die Illusion einer Illusion, er findet sich in einem Wirklichkeitslabyrinth wieder, das Phänomen des Spiegels im Spiegel im Spiegel. Spätestens da wird der leicht angegraut wirkende Science-Fiction-Krimi zur Reflexion über uralte philosophische Fragen nach den Ideen, der Wirklichkeit und der Konstruktion der Wirklichkeit: Platon in der virtuellen Realität.

Viele der Nebenfiguren sind in Augsburg gut besetzt (meist in Mehrfachrollen): etwa Roman Pertl als wunderbar nerdhafter Computerfachmann Wallfang, Gerald Fiedler als Institutspsychologe, Karoline Stegemann als jene Eva Vollmer, die Stiller schließlich den Weg durch Simulation und Wirklichkeit weist, oder Daniel Schmidt als kriecherisch-schleimiger neuer Mitarbeiter Stillers.

Zum bewussten Retro-Stil gehört auch der völlige Verzicht auf Videos, Beamer und - bis auf Lichteffekte - andere technische Spielereien. Diese Inszenierung über die digitalen Welten ist durch und durch analog und vermittelt auch dadurch die Distanz, die das vermeintlich Vertraute wieder befremdlich werden lässt. Damit zeigt sie aber auch, dass das Theater die bessere Simulationswelt ist. Theaterintelligenz statt Künstliche Intelligenz.

Brechtbühne, Vorstellungen bis 19. Juni, Kartentelefon (0821) 3244900..

Berndt Herrmann