AUSSTELLUNG
Neues aus Bethang

Karsten Neumann präsentiert in der Kunsthalle Lothringer13 in München seine "stadtentwicklungsbeeinflussungsanlage"

18.11.2019 | Stand 23.09.2023, 9:31 Uhr
Joachim Goetz
Querdenkerische Breitseite gegen heute übliche Stadtentwicklungen: Karsten Neumann zeigt seine Version der Tribüne auf dem Zeppelinfeld/Nürnberg, dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände. −Foto: Goetz

München (DK) Mit "Totalspinner" betitelt der Künstler Karsten Neumann seinen Katalog, den er zur Ausstellung über seine "Bethang-Kunst" im Obergeschoss (genannt Nest) der städtischen Kunsthalle Lothringer13 in München herausgibt. Aber das ist natürlich pure Provokation, wie überhaupt das seit 2002 entwickelte Bethang-Projekt eine Art künstlerisch inspirierte Stadtutopie, eine intelligente, querdenkerische Breitseite gegen heute übliche Stadtentwicklungen und Planungen ist.

Denkmalschutz soll als erstes verboten werden, sagt der Künstler. Aber nicht etwa, weil er alle alten Bauten abreißen und dafür neue bauen will - wie das heute Investoren oder "Heuschrecken" gerne tun. Das wäre ihm wohl das Schlimmste. Vielmehr sollten der kreativen Weiterentwicklung von Gebäuden die Amtsschimmel (und andere Hindernisse) nicht im Wege stehen.

Städte brauchen Ideen und einen Diskurs darüber. Wenn man Neumann richtig versteht, wird ein veränderter Ort auch zu einem Ort der Veränderung. So passt es gut, dass sein "Bethang" längst existiert. Undercover auf der Landkarte. Als gedachte Fusionierung der Städte Nürn-BE-rg, Für-TH, Erl-ANG-en. Genau so schreibt er sie. Die Versalien in der Mitte der Namen fügen sich dann zu: Bethang. Das exotische Flair im Namen: Absicht. In Indien existiert tatsächlich ein Ort gleichen Namens. Denn Neumann ist freilich klar, dass seine Vision nicht so schnell verwirklicht wird. Wegen divergierender Interessen und vielerlei Komplikationen. Dennoch treibt er seine Utopie mit allen Mitteln, meist künstlerischen, voran. Radikale Konzeptkunst nennt er das. Viele Fotografien lassen die Illusion in der Ausstellung sichtbar werden.

Wandgroß: die anverwandelte Zeppelintribüne des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes. Obendrauf Solarpaneele, die Wände aufgebrochen und mit schicken Softline-Fenstern, Balkon, Eingangstüren oder grünem und blühenden Bewuchs garniert. Damit man das Ganze auch benutzen kann. Auf das große Bild hat Neumann weitere Fotografien montiert, die oft Straßenschilder zeigen. Die Nürnberger Straße in Erlangen braucht's nicht mehr. Sie wird in Beate Klarsfeld Straße umgetauft und erinnert an die Dame, die alte Nazis aufspürte und Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, einst NSDAP-Mitglied, einmal öffentlich ohrfeigte. Weiter tauchen Verkehrs- und Autobahnschilder auf, die von München aus den Weg nach Bethang (statt nach Nürnberg) weisen. Der Platz vor dem Stuttgart-Bad Canstatter Krankenhaus nennt sich nun Bethanger Platz. Um der Globalisierung Ausdruck zu verleihen, wurde die Untere Kreuzgasse in Untere Mandalagasse umgetauft. Wenn das das richtige Wort dafür ist.

Nicht unberührt bleibt auch München. Dort soll der Marienplatz zum "Dakiniplatz" werden. Dakini klingt freilich wie "da Kini", also Ludwig II. Gleichzeitig wird aber auch ein tibetisches tantrisches Geistwesen so bezeichnet. An der Glyptothek gibt es den "Ministerpräsidentenplatz", eine Straße wird nach Okwui Enwezor benannt, dem verstorbenen Leiter des Hauses der Kunst. Wegweiser führen uns zur "Samuel Kouffour Arena" oder zur "Zwangsarbeiterwelt". Und am Hauptbahnhof fährt der Zug nun nach Bethang Hbf, über Freising und Landshut. Autos sind übrigens in Bethang Auslaufmodelle, es dürfen keine neuen zugelassen werden. Und wenn Blechschäden repariert werden, müssen die neuen Stellen andersfarbig lackiert werden - damit das Bethanger Leben bunt wird.

Die eigene Zeitrechnung für Bethang beginnt ansonsten am 8.5.1945, dem Ende des Faschismus. Und Kunst, ja "Bildndn Kunst", wie der Künstler das schreibt, das gibt es auch. Und wird etwa aus alten Radkappen (von verschrotteten Autos) und aus leeren (Benzin-) Kanistern, die man auch nicht mehr braucht, gemacht. Dazu: bunter Plastikmüll. Der mit dem Akubohrschrauber dran befestigt wird. Dabei entstehen oft farbenprächtige Mandalas, die - wenn sie in ihrem früheren motorisierten Leben an den Randstein gefahren wurden - auch Dellen haben oder halb kaputt sind.

Der Künstler mag zukunftsoffene Improvisation, schätzt Brauchen und Gebrauchtes höher ein als den Neubau des Absoluten. Er begreift das als anti-totalitären Impuls und sich selbst als politischen Künstler. Der sich auch immer wieder an Politiker mit unterschiedlichen Anliegen wendet. Die Antwortschreiben - nicht aber die Eingaben - sind teils in der Ausstellung zu sehen. Und regen nicht selten zum Schmunzeln an. Denn Humor gehört zu Bethang dazu wie das schrille Bunte. Selbst wenn auf den Ortsschildern, die Ein- und Ausgang der Schau markieren, nur steht: "stadt der kultur und des geistes", klein geschrieben, wie im Englischen oder am Bauhaus.

Inzwischen kann man sogar einmal um diese herum laufen. Der Fränkische Albverein hat seit Sommer einen markierten 131 Kilometer langen Rundwanderweg um die real existierende und zugleich visionäre Stadt angelegt.

Lothringer13, München, bis 8. Dezember, Di bis So 11 bis 20 Uhr. Von 3. bis 8. Dezember ist der Künstler von 11 bis 14 Uhr und von 15 bis 20 Uhr anwesend. Künstlergespräch am 4. Dezember um 19 Uhr mit Siegfried Dengler und Kurator Jörg Koopmann. Diverse Kataloge, Wanderkarten u.a. lassen sich als PDF von Bethang.org herunterladen.

Joachim Goetz