Muster des Lebens

Das Textil- und Industriemuseum Augsburg setzt 50 Quilts mit 50 Kunstwerken der Moderne in Dialog

22.05.2020 | Stand 23.09.2023, 12:06 Uhr
Verhandeln Grundfragen menschlicher Existenz: Felix Weinolds Tryptichon "Vanity Fair" (oberes Foto) mit dem Quilt "Baskets", Winfred Gauls "Sex-a-gone" und Arne Quinzes "Natural Chaos" mit dem Quilt "Sawtooth-Diamond" (unten, Mitte) und Jan Kuck hinterfragt mit "Consumer's Martini" den Reichtum in der modernen Gesellschaft (unten, rechts). Nicht immer sind die rückseitigen Stoffe der Quilts schlicht und grafisch, sondern auch gern mal mit prächtigem floralem Muster. −Foto: Fröhlich

Augsburg - Im ersten Raum korrespondieren Winfred Gauls Sexagone aus den 1970er-Jahren so perfekt mit dem Quilt "Sawtooth-Diamond" (um 1910) wurde, dass Besucher sofort verstehen, warum in den 1960er-Jahren die Kunstbetrachtung die historischen Amish-Quilts mit ihren geometrischen Musterungen und ihrer expressiven Farbigkeit unter formalen Gesichtspunkten mit moderner Kunst etwa von Piet Mondrian, Josef Albers, Frank Stella oder James Turrell in Verbindung brachte.

Doch zeigt das Wandobjekt des Belgiers Arne Quinze, "Natural Chaos 170325" (2017), das Gauls Werkgruppe im selben Schauraum komplettiert, dass die neue Ausstellung im Staatlichen Textil- und Industriemuseum Augsburg (tim) einen anderen kuratorischen Zugang zu den 50 historischen Quilts aus der Privatsammlung der Familie Wurzer verfolgt als nur den formalen: einen philosophisch-anthropologischen, tim-Direktor Karl Borromäus Murr beim Presse-Rundgang erläuterte.

In 14 Stationen werden die Steppdecken - alle zwischen 1890 und 1950 entstanden - in Beziehung gesetzt zu Kunstwerken moderner Künstler. Diese sind Leihgaben der Bayerischen Staatsgemäldesammlung, Pinakothek der Moderne und Museum Brandhorst, der Allianz Kunstsammlung (Bonn) sowie der Brüsseler Galerie Maruani Mercier.

Die Grundsätze der aus täuferisch-protestantischen europäischen Gemeinschaften hervorgegangenen Amish People Nordamerikas geben das Sujet vor für den nun entstehenden Dialog zwischen Kunsthandwerk und Kunst. Das zentrale Leitmotiv ist die Ordnung, dem folgen Armut, Demut, Arbeit, Gemeinschaft und Friedfertigkeit. Die Kunstwerke setzen den dialektischen Gegenpart - im ersten Bereich definiert der Belgier Quinze das Chaos als positiv.

Und Winfred Gaul (1928-2003) sah Ordnung anders als die Amishen: "Die Anfänge des Informel standen ganz im Zeichen von Revolte und Anarchie. Wir rebellierten gegen den Versuch, die alte Ordnung wieder zu etablieren, die sich als unfähig erwiesen hatte, die Menschheit gegen den Braunen Terror zu schützen. Als Maler protestierten wir gegen die Komposition, gegen Zeichnung, gegen die Figur, gegen das Abbild, gegen das Gewohnte und Tradierte. " Diese Abkehr vom Abbild wiederum findet sich bei den Amishen -religiös begründet.

Es geht um Grundfragen menschlichen Daseins. Auf die die Amishen im 17. Jahrhundert ihre bis heute mit wenigen Veränderungen geltenden Lebensregeln entwickelten und die sich im Kunsthandwerk der Quilts materialisieren.

Die 50 Kunstwerke der Moderne nehmen Themen wie Klimawandel, Krieg, Schnelllebigkeit der Konsumgesellschaft und ihren Einfluss auf Individuum, Umwelt und Natur selbstreflexiv, kritisch und kreativ auf : Da schlägt im Film der Künstler Julius von Bismarck mit einer Peitsche auf einen See - analog zum Thema Natur-Kultur. Jan Kucks "Consumer's Martini" (2016) mit vergoldeten Kaffeekapseln, einem Porsche-Cabrio und einer teuren Uhr, bildet das Gegenstück zum schwarzen "Plain Quilt/Center Square" (1912) mit blauem Rechteck-Rahmen zu Armut-Reichtum.

Das Augsburger Museums- und Kuratorenteam lässt durch Auswahl und Hängung viel Freiheit, eigene Antworten zu finden im spannenden Wechselspiel zwischen vormodernen Quilts und Werken der Moderne - letztere in ihren Techniken sehr unterschiedlich.

Bei den Amishen schreibt der Wertekanon das Arbeiten vor. Die Muster der Vorderseite - Zickzack-Linien, gerade Streifen (Bars), Blocks, Quadrate und Center Diamonds (auf der Spitze stehende Quadrate), Sterne, Sawtooth-Ränder (Sägezahn-Ränder) und doppelte Ringe auf der Oberseite werden nach tradierten Plänen beim Piecing zusammengefügt. Doch korrespondiert der Oberseite nicht immer eine monochrome Rückseite, sondern auch floral gemusterter Stoff. Beim Quilting, dem Zusammensteppen der drei Lagen Rückseite, wärmendes Vlies, Vorderseite mit Patchwork-Muster, entstehen feine Muster aus Linien, Kreisen, Quadraten, Blüten und Blättern. Am auffälligsten ist das Rosenmuster. Eine dezent andere Farbigkeit der Fäden (etwa dunkelblauer Faden auf hellblauem Stoff) lässt die kunstvollen Steppverläufe als eigenes Gestaltungsmoment hervortreten. Die Patchwork-Arbeit wird so konterkariert oder ergänzt. Hinzu kommt, dass trotz des Bilderverbots auch Sterne mehr Inhalt vermitteln. Immer wieder haben die Quilts sprechende Namen - etwa bei "Baskets" (um 1930, Ohio), auf dem aus Dreiecken gestaltete Elemente in den Diamonds zu Körben werden. Gefertigt wurde dieser Quilt wie alle anderen in der Gemeinschaft und nicht von einer einzelnen Näherin.

Gezeigt wird er im Bereich "Demut-Hochmut" gemeinsam mit Felix Weinolds Tryptichon "Vanity Fair" (2014). Weinold (*1960) hinterfragt anhand des Hochglanzmagazins, das ihm als Kunstmaterial dient, was die Amishen als Hochmut ablehnen: Die Fotografien der Seitenteile des Tryptichons zeigen die eitle mediale Vermarktung Einzelner, hier der amerikanischen Filmstars Matthew David McConaughey und Katy Perry. Die Mitteltafel dagegen hat Weinold aus der geschredderten kompletten Ausgabe des Magazins gefertigt als Verweis auf die Vergänglichkeit eines solchen Strebens nach Ruhm.

So gibt diese Ausstellung nicht nur Einblicke in faszinierendes Kunsthandwerk und in eine exquisite Auswahl moderner Kunst, sondern regt zum Nachdenken an, wie wir als Gesellschaft miteinander leben und künftig leben wollen.

DK

Barbara Fröhlich