München
Längst fällige Korrektur

Das Münchner Lenbachhaus rehabilitiert das bisher wenig beachtete Spätwerk der Malerin Gabriele Münter

29.11.2017 | Stand 02.12.2020, 17:08 Uhr

Gabriele Münter: Fräulein Ellen im Gras, 1934. - Foto: Lenbachhaus

München (DK) Am Anfang war die Fotografie. Und das ausgerechnet bei einer Malerin, die ihr Leben lang weit in die Farbe getaucht ist. Gabriele Münter (1877-1962) ließ den Himmel türkis leuchten und die Häuser tiefrosa glühen, Gesichter wurden schon mal gelbgrün bis pink, und noch in den Landschaften der 50er-Jahre dominieren safrangelbe Hügel über violetten Wegen.

Dass nun das Münchner Lenbachhaus die erste umfassende Schau sämtlicher Schaffensphasen Münters mit den frühen, selbstredend schwarz-weißen Fotografien beginnt, mag auf den ersten Blick irritieren. Doch just in diesen Bildern ist bereits all das angelegt, was ihr malerisches Å’uvre charakterisieren wird wie etwa ein untrügliches Gespür für Kompositionen, die sichere Annäherung an ein Motiv oder die Wahl des Ausschnitts. Entstanden sind diese Aufnahmen während einer ausgiebigen Reise durch Nordamerika. Gabriele ist zwischen 1898 und 1900 mit ihrer Schwester Emmy unterwegs, um Verwandte zu besuchen, und erhält eine Kodak-Rollkamera geschenkt, die rasch zur ständigen Begleiterin wird.

Um die 400 Fotografien kommen in dieser Zeit zusammen, darunter Ausblicke über Felder in Arkansas, einsame Hütten in Texas, ein Bub mit einer Katze, schwarze Ladys im weißen Sonntagsstaat, Flusslandschaften und immer wieder Porträts, die Münter gerne in häuslicher Umgebung aufnimmt. Was fehlt, ist eigentlich nur noch die Farbe. Den Umgang mit dem Zeichenstift beherrscht sie ohnehin, deshalb verwundert es kaum, wenn Wassily Kandinsky, ihr Mallehrer an der Münchner Phalanx-Schule, zwei Jahre später bemerken wird: "Du hast alles von der Natur".

Dennoch bleibt die junge Frau seine eifrige Schülerin und wird bald auch seine fürsorgliche Geliebte. Die beiden zieht es quer durch Europa, unter dem Eindruck des Postimpressionismus malen sie im Freien, treiben sich gegenseitig an und werden 1908, angelockt von der befreundeten Marianne von Werefkin, schließlich in Murnau sesshaft. Er, der zehn Jahre ältere Visionär aus dem russischen Großbürgertum, gibt selbstbewusst den Ton an, sie ist ihm ein verständiges Gegenüber. Aus diesem Schatten sollte die Münter nicht mehr heraustreten, erst recht nicht, nachdem Kandinsky sie 1916 endgültig sitzen ließ. Und genau hier nimmt die Ausstellung "Malen ohne Umschweife" eine längst fällige Korrektur vor.

Natürlich sind die Murnauer Jahre und ab 1911 die Zeit in der Gemeinschaft des "Blauen Reiter" unerhört fruchtbar. Das demonstriert allein schon das fulminante, bis aufs Gesicht ganz aus Farbe konstruierte Porträt der Werefkin (1909) gleich im Eingangsbereich des Kunstbaus. Doch für die tief verletzte Gabriele Münter ging es nach dem Desaster der Trennung weiter - und verblüffend dazu, wie nun ein großer Teil der insgesamt 130 Gemälde belegt. Die Hälfte war noch nie oder seit dem Tod der Künstlerin nicht mehr öffentlich zu sehen, und einiges davon würde man schwerlich der Münter zuschreiben. Sowieso ist sie ungemein vielseitig, wechselt die Stile wie es zu den Sujets und jeweiligen Orten passt. Sie kennt ja sämtliche Strömungen der Avantgarde.

Nach ihrer hinreichend bekannten expressiven Phase um 1910 sind es dann in den äußerst produktiven späten 20er-Jahren die neusachlich inspirierten Werke wie die völlig in ihr Schreiben versunkene "Dame im Sessel" (1929), die bis auf den schwarzen Pullover und feuerrote Pantöffelchen in der Couleur sehr dezent ausfällt, oder ein winterlich dürrer "Baum an der Seine" (1930), vor dem zwei Spaziergängerinnen Halt machen.

Weit im Hintergrund ragen Fabrikschlote in den frostig blauen Himmel. Und es kommt Mitte der 1930er-Jahre noch drastischer, wenn auf den einst so idyllischen Feldern um Murnau die Bagger um sich greifen und gewaltige Gruben ausheben. Direkt vor Münters Haustür werden Bahnstrecke und Straße nach Garmisch-Partenkirchen ausgebaut, die Olympischen Winterspiele 1936 verlangen ihren Tribut. Allerdings ist die Malerin eher fasziniert von den mächtigen Maschinen, denn als Naturschützerin im Einsatz.

In den 50er-Jahren mit weit über 70 übt sich Münter ein zweites Mal nach 1914/15 in der Abstraktion. Sie hört nicht auf, sich immer wieder neu zu orientieren, auch wenn die Zahl dieser Arbeiten überschaubar bleibt und sie in einem Brief 1956 bekennt, tatsächlich nicht abstrakt gemalt zu haben, weil sie "die Augen aus der Natur immer mit Motiven versahen". Mag sein, dass sie sich den gegenstandslosen Tendenzen der Nachkriegszeit nicht verwehren will, gehört sie doch zu den als "entartet" verfemten Künstlern der Nazi-Jahre. Vielleicht hat aber auch Johannes Eichner, ihr zweiter Lebensgefährte, wieder einmal "beratend" auf sie eingewirkt. Der Kunsthistoriker drängt sie unaufhörlich, sich dem Zeitgeist anzupassen und überhaupt gefälliger und damit kommerzieller zu arbeiten.

Nach außen gibt sich Gabriele Münter ihr Leben lang nachgiebig - und lässt sich am Ende doch nichts vorschreiben. Ihre größte Stärke sind die Landschaften, die Stillleben und die Porträts. Seien es sinnierende Frauen oder achtsam studierte Kindergesichter, seien es Kollegen wie der behäbige Alexej Jawlensky mit seinem rosigen Rundschädel oder Kandinsky, dem auf ihren Bildern gerne etwas Oberlehrerhaftes anhängt. Die Frau mit den ewig gekränkten Augen hatte einen feinen Humor, ja Witz. Und selbst das sieht man bereits auf ihren Fotografien.

Bis 8. April im Lenbachhaus-Kunstbau, Mi bis So 10 bis 18, Di bis 20 Uhr, Katalog (Prestel Verlag) 32 Euro im Museumsladen.