München
Blick auf eine Depressive

Enttäuschende Romanbearbeitung von Flauberts "Madame Bovary" am Residenztheater München

30.11.2014 | Stand 02.12.2020, 21:55 Uhr

Auch die Liebe ist nur eine Schimäre – Emma (Sophie von Kessel) mit dem versierten Verführer Boulanger (Bijan Zamani), - Foto: Dashuber

München (DK) „Schwarzgalligkeit“, „Melancholie“, „Weltschmerz“, „Neurasthenie“, „Depression“. Jede Zeit hat andere Worte für die Erkrankung des Geistes, und bis heute können sich die daran Leidenden zumindest damit trösten, sich in Gemeinschaft mit vielen bedeutenden Intellektuellen zu wissen:

Dürer, van Gogh, Nietzsche sind nur drei Namen einer schier endlosen Liste von Geistesgrößen mit psychischen Problemen. So liegt nahe, dass es auch in Literatur und Kunst wimmelt von psychisch auffälligen Hauptpersonen. Viele Universitätsseminare haben schon in Faust den Depressiven, in Peer Gynt den Maniker erkannt. Und weiter?

Diese Frage hätte sich vielleicht die Regisseurin Mateja Koleznik stellen sollen, bevor sie für das Münchner Residenztheater Flauberts Roman „Madame Bovary“ auf eine szenische Depressions-Studie eindampfte. Denn mit nur einer Idee durch den Abend zu kommen – das geht im Leben wie im Theater selten gut aus.

So wird diese Romandramatisierung auf der Marstallbühne, obgleich für den etwa 450 Seiten dicken Roman nur 90 Minuten Spieldauer angesetzt sind, doch ziemlich schnell ziemlich langweilig.

Flauberts Werk aus dem Jahr 1856 erzählt Leben und Sterben der Emma Bovary, die für das Kloster erzogen, dann aber in einer Vernunftehe unglücklich wurde und sich schließlich in Affären, Wirrnissen, Schulden aufrieb, bis der Arsentod ihr einziger Ausweg schien. Zerfahren und blass gerät diese für das Leben Untüchtige bei Sophie von Kessel, die nur Textfetzen zugeteilt bekommt und kaum je szenisch ausholen darf. Und welch langen Atem hatte der französische Autor für seine Emma! Er setzt ein bei der Schulzeit des Ehemannes und endet erst, als beider Tochter verweist und in Armut zurückbleibt. Denn Flaubert hatte einen großen Plan, er wollte mit einer Frauenbiografie ein Sittenbild aus der Provinz wiedergeben, so der Untertitel seines Werkes.

Im Residenztheater dagegen: ein gleichgültiger, fast voyeuristischer Blick auf das tragische Ende einer depressiven Frau, eine Boulevardzeitungsnotiz. Diese dürre und nervöse Emma hat schon zu Beginn der Handlung Gift geschluckt und wankt nun, sich wiederholt und in verschiedenen Farben erbrechend, durch die letzten Jahre ihres Lebens. Verschiedene Sterbebettszenen gliedern halbherzig einen Abend, der gänzlich unaufgeregt die Stationen ihres Unglücks Revue passieren lässt. Der Liebreiz und die Hoffnungen, die Emma einmal angetrieben haben müssen, sind unauffindbar unter der Dominanz ihrer Störungen und Stimmungen.

Albert Ostermaier hat die viel beachtete Neuübersetzung von Elisabeth Edl aus dem Jahr 2012 eiskalt skelettiert, was sich auf dem Papier gar nicht so schlecht liest. Doch die Regie sekundiert seinem Entwurf mit einer holzschnittartigen Typenparade: der treudoofe Ehemann (René Dumont), der geschwätzige Apotheker (Thomas Gräßle), ein naiver (Thomas Lettow) und ein perfider (Bijan Zamani) Liebhaber – alles Holzköpfe aus der Kirmesbude. Wie am Jahrmarkt dreht sich sogar die Bühne (Henrik Ahr) unermüdlich im Kreis herum, allerdings nicht rund, sondern rechteckig wie ein Grabstein, unter dessen Mühlwerk der Kontext zerrieben wird.

Zum Lichtblick des Abends gerät erstaunlicherweise die womöglich unsympathischste Figur Flauberts, die Schwiegermutter (Gabriele Dossi), welche in Egoismus und Hartherzigkeit all das aufzeigt, was die Figuren sonst allesamt vermissen lassen: Format, Stringenz, eine Lebensgeschichte.

In der Entstehungszeit seines Romans schrieb Flaubert von „les affres de l’art“, von jenen grauenhaften künstlerischen Anstrengungen, derer er bedürfe, um die sachlich analysierten Vorgänge um Eheunglück, Ehebruch, Verschwendung und Selbstmord abzubilden. Als „Sklavenarbeit“ bezeichnete er diesen rein dokumentarischen Anteil an seinem Werk – doch aufgrund der minutiösen Schilderung erblühen bei ihm die Charaktere. Sie blieben frisch und lebensecht auch fast 160 Jahre, nachdem die ersten Leser den Fortsetzungen des Romans in der „Revue de Paris“ entgegenfieberten, wie wir vielleicht heute der nächsten Staffel einer Serie. Wie schade, dass das Team mit dieser Dramatisierung in Flauberts Falle gegangen ist. Im Sieb der Regie findet sich nur die Sklavenarbeit, nur die Knochen sind hängen geblieben – Fleisch und Blut, Seele und Geist wurden dagegen gründlich ausgekocht.

Nächste Aufführungstermine im Residenztheater sind für 7. und 17. Dezember sowie am 9., 10., 12. und 18. Januar 2015 angesetzt.