Venedig
Mit schonungslosem Blick auf die Welt

13.05.2019 | Stand 02.12.2020, 13:59 Uhr
Kontrastreiches Kunstfest: Cathy Wilkes zeigt im britischen Pavillon zarte Figuren, Farbe satt herrscht in der Kunsthaarhöhle von Hrafnhildur Arnardottir. Eine längst überfällige Würdigung in Venedig erfährt der tschechische Künstler Stanislav Kolíbal (sitzend). −Foto: Fehr

Für sechs Monate ist Venedig wieder das internationale Zentrum zeitgenössischer Kunst. Die ist in all der Fülle zeitkritisch, hoch politisch und vielseitig wie lange nicht mehr auf der Biennale. Ein Rundgang durch die Lagunenstadt.

Mit wachem Blick sitzt Stanislav Kolíbal auf einem Stuhl - auf seine blaue Krücke gestützt - und schaut sich den ganzen Tag die Besucher an. Die zu Tausenden während der dreitägigen Vorbesichtigung der 58. Biennale durch die Giardini, das Arsenale, durch die ganze Stadt ziehen. Und auch in den tschechischen und slowakischen Pavillon strömen. Wer den Künstler nicht kennt, mag in ihm einen älteren Besucher sehen, der sich eine kurze Verschnaufpause im Vielerlei und Trubel der Kunstschau in der Lagunenstadt gönnt. Doch es ist der 93-jährige Prager Künstler, eine lebende Legende der geometrischen abstrakten Kunst. Manche erkennen ihn, sprechen den Grandsegneur der Biennale, der unter den Regimen in seinem Heimatland konsequent trotzend und stetig weitergearbeitet hat, der dreimal für Venedig abgelehnt wurde - und nun endlich ausstellen darf. Und das bei einer Ausgabe der Biennale, die politisch, zeitkritisch, vielseitig und nur selten effekthascherisch ist.


Das Motto hat der 62-jährige Kurator Ralph Rugoff - ein weitsichtiger und uneitler Kunstexperte, der in New York geboren wurde und inzwischen in London arbeitet - klug gewählt: "May you live in interesting times" ("Mögest du in interessanten Zeiten leben"). Es ist ein Slogan, der häufig zur selbstironischen Beschreibung krisenhafter Zeiten verwendet wird und unter dem im Arsenale und in den Giardini - den beiden Ausstellungen von Rugoff - sowie in den 90 Länderpavillons spannende und ausdrucksstarke Kunst zu sehen ist, die vielfach auf die globale Stimmungslage und die Bruchstellen dieser Welt eingeht.

Themen sind Umweltzerstörung und Klimawandel, Krieg und Frieden, Vergangenheitsbewältigung und Erinnerungsarbeit, Macht und Gewalt, Rassismus und Ausgrenzung, Künstliche Intelligenz und die Digitalisierung mit all ihren Stolperfallen, Migration, Heimat und Identität. Ralph Rugoff weiß um die Kraft und die Möglichkeiten der Kunst, aber auch um ihre Grenzen. "Kunst kann weder den Aufstieg nationalistischer Bewegungen und autoritärer Regierungen in verschiedenen Teilen der Welt aufhalten, noch die tragischen Schicksale von vertriebenen Menschen in aller Welt lindern. Aber indirekt zumindest kann Kunst vielleicht als eine Art Leitfaden dafür dienen, wie Menschen während unserer ,interessanten Zeiten' leben und denken sollten. Was die Kunst zu etwas Besonderem macht ist die Tatsache, dass sie sich geschlossenen Mentalitäten verweigert", sagte er vor der Eröffnung.

Die Künstlerinnen - in der Mehrheit - und Künstler finden auf der nach der documenta in Kassel bedeutendsten Kunstschau der Welt eine enorme Bandbreite an Ausdrucksmöglichkeiten: zahlreiche Videos, viele laute und schrille Installationen, aber auch Malerei in lange nicht mehr gesehener großer Zahl. Andächtige Stille herrscht im britischen Pavillon mit den zarten Figuren von Cathy Wilkes, den Golden Löwen für den besten Pavillon erhielt Litauen mit einer zeitkritische Oper an einem künstlichen Strand. Christoph Büchel provoziert mit einem Schiffswrack, in dem 2015 Hunderte Flüchtlinge ums Leben kamen, lban Muja hat junge Erwachsene interviewt, die vor 20 Jahren als Kleinkinder den Kosovokrieg erlebt haben, der irakische Künstler Serwan Baran bearbeitet Kriegstraumata. Die ehemaligen Polit-Aktivistinnen Pauline Boudry und Renate Lorenz haben für den Schweizer Pavillon einen Film über Rückwärtsbewegungen erarbeitet, Frankreich zeigt ein Multimedia-Roadmovie von Laure Prouvost, Ghana begeistert bei seiner Premiere in Venedig. Und die Künstler des iranischen Pavillon - direkt in einem Palazzo am Canal Grande gelegen - sind trotz der Sanktionen angereist.

Die diesjährige Biennale ist reich an Überraschungen und Entdeckungen. Und auf dem Weg zu den Museen, Inseln, zu den Fabrikhallen und Palazzi, in denen die Künstler unter Kronleuchtern aus Muranoglas ihre Kunst präsentieren, lernt der Besucher die Stadt immer wieder aufs Neue kennen. Umwege inklusive. Neben den Biennale-Beiträgen im Arsenale, in den Giardini und über die Stadt verstreut locken außerdem zahlreiche hochkarätige Ausstellungen, Happenings und Performances im Rahmenprogramm sowie in den Museen und Stiftungen. Eine immense Fülle. Ein großes Kunstfest in der Lagune!

Biennale Venedig: bis 24. November. Informationen gibt es unter www.labiennale.org.

Deutscher Pavillon: Klares Statement zur Festung Europa

 


Der deutsche Pavillon ist selten ein Ort, an dem es lustig oder heiter, bunt oder unbeschwert zugeht, was auch am Gigantismus des Gebäudes mit Nazi-Vergangenheit und der Herausforderung mit diesem Erbe liegen mag.

Bei dieser Ausgabe der Biennale geht es um Migration, Ausgrenzung und Fragen des Zusammenlebens. Natascha Süder Happelmann, die mit Klarnamen Natascha Sadr Haghighian heißt und Professorin für Bildhauerei an der Kunsthochschule Bremen ist, hat ein "Ankersentrum" gestaltet, den Raum mit einer Staumauer bis unter die Decke geteilt, es liegen große Steine im Raum, ein Rinnsal läuft hindurch. Hinter der Mauer dann ein Stangenwald bis unter das Dach, ein Gefängnis, mit Soundinstallation von sechs Komponistinnen und Musikern unterschiedlicher Traditionen, letztlich auch die Variationen auf ein Konzert mit Trillerpfeife, das Instrument, mit dem Flüchtlinge vor dem Zugriff der Polizei warnen.

Zur Recherche ist Natascha Süder Happelmann, die gerne mit Sprache und Identitäten spielt, nicht nur auf den Tomatenfeldern in Süditalien unterwegs gewesen - in einem Raum erinnern gestapelte Gemüsekisten an die Zustände und erbärmlichen Bedingungen, unter denen die Erntehelfer arbeiten - sondern war auch vor bayerischen Ankerzentren, etwa in Manching, wie Filme auf der Homepage des deutschen Pavillons belegen. "Wir wollten zeigen, dass respektloses Denken (...) gegenüber anderen Daseinsformen oder gegenüber Menschen nicht in der Vergangenheit liegt, sondern dass das Gegenwart ist", sagte die Kuratorin des Pavillons, Franciska Zólyom.

NOCH MEHR KUNST

 


nPremiere in der Lagune

Der Reiz der Biennale liegt auch im Unerwartbaren. Eine Überraschung ist die Ausstellung von Luigi Pericle (1916-2001) in der Fondazione Querini Stampalia. Das kunstsinnige Hotelierspaar Andrea und Greta Biasca-Caroni hat das Wohnhaus des Künstlers in Ascona gekauft - samt Tausender Werke. Der Kunstschatz wird erstmals ausgestellt.

nHillary Clintons Account

Im Teatro Despar, ein Supermarkt in einem historischen?Theater, hat Kenneth Goldsmith die 60000 Seiten der Mails der US-Präsidenten-Kandidatin Hillary Clinton versammelt. Man blättert, staunt, ist irritiert, blättert weiter. Wer nicht fertig wird, kann sich einen Band für Zuhause kaufen.

nOpulente Wunderkammer

Im prächtigen Palazzo Fortuny gibt es eine Doppelausstellung: eine Schau des südkoreanischen Künstlers Yun Hyong-Keun (mit eindrücksvoller Biografie) und eine Hommage an die Familie Fortuny, Vater und Sohn waren Maler, Designer, Bühnenbildner.

nMeditation mit Sean Scully

"Human" heißt die Ausstellung von Sean Scully im Kloster San Giorgio Maggiore. Im Kirchenraum hat er außerdem eine zehn Meter große Installation platziert. Beeindruckend, meditativ.