Ingolstadt
Mit Musik gegen das Establishment

Großer Jubel für Tobias Hofmanns Liederabend "Achtundsechzig" im Kleinen Haus des Stadttheaters Ingolstadt

07.12.2018 | Stand 23.09.2023, 5:20 Uhr
Proteste gegen die verkrusteten Gesellschaftsstrukturen in der Bundesrepublik: Andrea Frohn, Renate Knollmann, Jan Gebauer, Ralf Lichtenberg, Peter Reisser und Richard Putzinger in Tobias Hofmanns Liederabend "Achtundsechzig" im Kleinen Haus. −Foto: Klenk

Ingolstadt (DK) Da sitzt einer und schaut mit fremdem Blick auf ehedem Vertrautes: rustikale Schrankwand mit Wellensittich und Kuckucksuhr, idyllisches Buntfernsehen aus mächtiger Röhrenkiste, Orangenlikör und Heidschi Bumbeidschi. Er sitzt im spießigen Biederbürgerheim und schaut auf Vatis Wohlstandsbauch und Muttis Karottendiät, hört Heinrich Lübkes absonderliche, präsidiale Tiefkühltruhen-Prosa - und verzweifelt. Doch da ist noch eine andere Welt. Eine, die neue Töne anschlägt, die verführerisch von Wandel und Revolte kündet, Liebe und Freiheit verspricht, nach den Rollings Stones, den Animals, den Beatles klingt: "Sympathy For The Devil", "We Gotta Get Out of This Place", "All You Need Is Love".

Vietnamkrieg, Prager Frühling, Atomwaffensperrvertrag, Notstandsgesetze, Studentenunruhen, die Attentate auf Martin Luther King, Robert Kennedy und Rudi Dutschke: 1968 befindet sich die Welt in schweren Turbulenzen. Und weil in der Folge nahezu alles in Frage gestellt wird - Familie, Schulen, Universitäten, Politik und Justiz, Kirchen, Konzerne und Medien - brennt sich 1968 als Jahr des Aufbruchs und Protests ins kollektive Gedächtnis ein. Go-ins, Sit-ins, Teach-ins. 50 Jahre 68: Viele Rückblicke hat es in diesem Jahr dazu schon gegeben. Das Stadttheater Ingolstadt wagt jetzt eine besondere musikalische Reminiszenz.

Schlicht "Achtundsechzig" hat Tobias Hofmann seinen Liederabend genannt, in dem er den Sound dieses Jahres anstimmt. Und weil hier nicht nur zwei Generationen, sondern gar zwei Welten aufeinanderprallen, hört man neben Heintje, der die gesamte zweite Jahreshälfte lang die Spitze der deutschen Albumcharts dominiert, oder Freddy Quinn, der mit einem Titel wie "Wir" der bürgerlichen Empörung gegen die wilde Jugend eine Stimme gibt, Rock- und Beatmusik als Treibstoff für gesellschaftlichen Fortschritt - importiert aus den USA und Großbritannien: Beatles, Stones, Jimi Hendrix. Premiere war am Donnerstagabend im Kleinen Haus. Und nach den letzten Klängen von John Lennons "Imagine" als Zugabe wollte der Jubel nach etwa 90 Minuten kein Ende nehmen.

Tobias Hofmann geht es nicht um eine realistische Darstellung von 1968. Es geht ihm darum, diese seltsame Gemengelage des Jahres zu erfassen. Er hat seinen Abend in vier Kapitel eingeteilt, die er jeweils von einer Art Conférencier-Zwillingspaar (Ralf Lichtenberg und Peter Reisser) einleiten lässt: "Rock'n'Roll", "Love", "Drugs", "Politics" schreiben sie an eine Schultafel und singen Lieder dazu von Franz Josef Degenhardt: "Deutscher Sonntag", "Weintrinker", "Alte Lieder" oder die düstere Ballade "Spiel nicht mit den Schmuddelkindern", wohl das bekannteste Lied des Liedermachers, Polit-Aktivisten, RAF-Anwalts, der so spitzzüngig die Bundesrepublik sezieren konnte. Und dann verfolgen wir die Geschichte des jungen Mannes (Richard Putzinger), der gegen Eltern und Establishment aufbegehrt und sich dieser neuen Protestgeneration anschließt, ihre Musik kennenlernt, ihre Art zu leben verinnerlicht.

Emanzipation, Pathos, freie Liebe, lange Haare, kurze Röcke, Drogenrausch (originell: David Peels "Marijuana") hier, autoritäre Strukturen, Scheinidylle und Doppelmoral dort: Tobias Hofmann mixt einen Abend aus Schlagworten und Zitaten (wie Thomas Hesterbergs berühmten Rückenakt der Mitglieder der Kommune 1). Er setzt auf lustvoll inszeniertes Tohuwabohu (bis hin zum Klamauk) und vor allem auf die emotionale Kraft der Musik.

Herrlich ist das, was er mit seiner kleinen, tadellosen Band (Dieter Holesch, Josef Reßle, Ludwig Leininger) aus seiner Bauwagen-Box zaubert: Sitar und E-Gitarre - eine ganz neue Energie ist das. Unerhörtes, Revolutionäres, gepaart mit Hymnen auf die Abgründe des menschlichen Herzens. Und die Schauspieler werfen sich mit Leidenschaft auf ihr umtriebiges Personal: Andrea Frohn, Renate Knollmann, Jan Gebauer, Ralf Lichtenberg, Peter Reisser und Richard Putzinger schlüpfen in die unterschiedlichsten Rollen oder fallen augenzwinkernd aus ihren Rollen, bevölkern die heile Welt vor und hinter dem Bildschirm, bedienen mit Aberwitz sämtliche Klischees der Zeit und zelebrieren Miniaturdramen im hochkomplexen Weltdrama. Und dabei singen sie allesamt so umwerfend, dass es immer wieder Szenenapplaus gibt.

Ausstatterin Katrin Busching kann aus dem Vollen schöpfen. Denn das neue Lebensgefühl der 68er findet ja auch Ausdruck in unkonventioneller Mode. Wild und laut ist ihre Bühnenwelt, der neue Style setzt große Muster gegen kleine Karos, lässige Schlaghosen gegen brave Anzüge, Knallbuntes gegen fades Braun-Grau. Der Körper wird zum Schauplatz für Protest - nackt, behaart oder im Revoluzzer-Dresscode.

Neuer Look, neuer Sound, neue Ideen - so hat es angefangen. Die Welt wurde bunter, vielschichtiger, politischer, facettenreicher - und mir ihr die Musik. Wir sind gespannt, wohin uns Tobias Hofmanns nächster Liederabend führen wird.

ZUM STÜCK
Theater:
Kleines Haus Ingolstadt
Regie:
Tobias Hofmann
Ausstattung:
Katrin Busching
Läuft bis:
24. Februar 2019
Kartentelefon:
(0841) 30547200.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Anja Witzke