Poetisch, reflektiert, präzis
Marieluise-Fleißer-Preis: Auszeichnung geht an Ines Geipel

03.08.2021 | Stand 23.09.2023, 20:07 Uhr
Ines Geipel gewinnt heuer den Marieluise-Fleißer-Preis. −Foto: Fischer/dpa

Ingolstadt/Dresden - Der Marieluise-Fleißer-Preis 2021 der Stadt Ingolstadt geht in diesem Jahr an die Schriftstellerin Ines Geipel. Das gab Kulturreferent Gabriel Engert am Dienstag vor der Presse in Ingolstadt bekannt.

Ausgezeichnet werde eine Schriftstellerin, die zwar eher bekannt sei als ehemalige Olympiasiegerin, die aber seit Ende ihrer Spitzensport-Karriere und ihrem Studium der Germanistik in Jena und Philosophie in Darmstadt rund 20 Bücher geschrieben habe, die zwischen Erzählung und Essay angesiedelt seien und die sich durch eine sehr präzise Sprache auszeichneten. Mit dem alle zwei Jahre vergebenen und mit 10000 Euro dotierten Preis reiht sich die 1960 in Dresden geborene Ines Geipel als 17. Preisträgerin ein in eine Liste, zu der unter anderen die Literaturnobelpreisträgerin von 2009 und Fleißer-Preisträgerin von 1989, Herta Müller, gehört. Die Vorgängerin von Ines Geipel war im Jahr 2019 die Schriftstellerin Iris Wolff.

"Ich war gestern völlig baff, als ich die Nachricht erhielt. Natürlich kannte ich diesen Preis. Er hat ja doch ein enormes Renommee. Was für eine Ehre! Was für eine Freude! Ich danke allen, die an dieser Idee beteiligt waren", schrieb Ines Geipel am Dienstag per Mail auf Anfrage an unsere Zeitung über die Entscheidung des Ingolstädter Stadtrates vom 29. Juli, der damit der Empfehlung der Fleißer-Preis-Jury gefolgt war. "Welch eine Ahnengalerie! Was für Stimmen! Wie viel Geschichte, Erfahrungen, wie viel gute Literatur. Es ist so schön, nun in dieser Runde dabei sein zu dürfen", schrieb die Professorin an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" und verband dies mit einer persönlichen Erinnerung: "Herta Müller in Ingolstadt ist jetzt über 30 Jahre her. Es ging damals auch um ihren Band ,Niederungen', der 1988 erschienen war. Ich hockte damals in Darmstadt, war gerade geflohen. Nun darf ich in die Fleißer-Stadt kommen. Das ist großartig!", ergänzte sie in Hinblick auf die Verleihung des Preises im November .

Marieluise Fleißer (1901-1974) begegne sie regelmäßig an ihrem Lehrstuhl für Deutsche Verskunst: "Da meine StudentInnen an der ,Busch' - ich arbeite seit 20 Jahren an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst - die Fleißer immerzu am Wickel haben und ihre Stücke hoch und runter spielen. Für die ganz Jungen ist die Fleißer einfach eine Offenbarung. Ich könnte also mühelos sagen, Marieluise Fleißer ist in meinem Leben eine Art Konstante. Ich schätze ihren Hyperrealismus, ihre Sprache, ihre Originalität, ihre Bitterkeit, ihre Genauigkeit im Sozialen. Sie ist nur großartig."

Diese Genauigkeit des Hinsehens und Benennens zeichnet das Arbeiten Ines Geipels aus. In ihren Werken setzt sie sich mit ihren prägenden Erfahrungen in der DDR auseinander, mit den Folgen der beiden deutschen Diktaturen, der vergessenen und unterdrückten Literatur Ostdeutschlands und der deutschen Gegenwartsgeschichte. So beschrieb sie vor einem Jahr in einem Essay für die "radioTexte" auf Bayern2, was Deutschland auch 30 Jahre nach 1990 hindere zusammenzuwachsen, als Folge von sehr unterschiedlichen Erinnerungen an 40 Jahre Leben in getrennten Gesellschaften und Kulturen, in gegensätzlichen politischen Systemen. Die Wiedervereinigung mit ihren Anforderungen habe das Erinnern und Reden über unterschiedliche Erfahrungen erschwert, ja verhindert, darunter auch eine gesamtdeutsche Erinnerung und Auseinandersetzung mit dem Faschismus und Holocaust. Als Folgen dessen beschreibt sie die Gewalttaten, den Ausländerhass und das Erstarkten der Rechten in den 90ern und nach 2015 nach der Ankunft vieler Kriegsflüchtlinge.

Ihre literarische Karriere und ihre Arbeit für die Wiederentdeckung unterdrückter Literatur in der DDR begann Ines Geipel 1996 mit der Herausgabe des Bandes "Irgendwo; noch einmal möcht ich sehn" mit Texten von und zur Schriftstellerin Inge Müller. 1999 gab Geipel den Band "Die Welt ist eine Schachtel" über vier weitere DDR-Autorinnen heraus. Die beiden Bände legten den Grundstock zu dem 2001 gegründeten "Archiv unterdrückter Literatur in der DDR". 2015 erzählt Geipel in "Kalte Bücherverbrennung. Unterdrückte Literatur in der DDR" von jenen Autorinnen und Autoren, die ohne große öffentliche Aufmerksamkeit kontrolliert, diszipliniert und deren Manuskripte auch vernichtet wurden.

In ihrem belletristischen Werk, den Romanen "Das Heft" (1999), "Heimspiel" (2005), "Tochter des Diktators" (2017) und zuletzt "Umkämpfte Zone" (2019), schreibt Ines Geipel einfühlsam, lebendig, schonungslos und bei aller Verortung in der Geschichte auch gleichnishaft, wie totalitäre Systeme unbarmherzig die Menschen von innen zerstören.

Leben und gesellschaftspolitisches Engagement

Ines Geipel wurde am 7. Juli 1960 in Dresden geboren und wuchs dort auf. 1977 wurde sie in die Kinder- und Jugendsportschule in Jena aufgenommen. In den 80er Jahren gehörte sie zum Leistungskader der Leichtathletik der DDR und wurde 1983/84 mit anabolen Steroiden behandelt. Offiziell schied sie 1986 aus der Nationalmannschaft aus. Seit 1980 studierte sie Germanistik in Jena und schloss das Studium 1989 mit Diplom ab. Durch ihre Solidarität mit den Opfern des Tian'anmen-Massakers wurde sie aus der SED ausgeschlossen. Es folgte die Flucht über Ungarn in die Bundesrepublik. An der TU Darmstadt absolvierte sie ein Studium der Philosophie und Soziologie.

Im Jahr 2000 trat sie als Nebenklägerin gegen Hauptverantwortliche des staatlich organisierten Dopings auf. IhrBuch über die Dopingopfer trug dazu bei, dass der Deutsche Bundestag ein Doping-Hilfegesetz verabschiedete. An Auszeichnungen erhielt sie: 2011 dem Antiquaria-Preis für Buchkultur, 2011 den DJK-Ethik-Preis des Sports, 2011 das Bundesverdienstkreuz am Bande, 2017 das Goldene Band der Sportpresse, 2019 den Karl-Wilhelm-Fricke-Preis, 2020 den Lessing-Preis für Kritik.

DK

Barbara Fröhlich