Logik versus Hoffnung

Toni Schatz begeistert mit den "Erstaunlichen Erkenntnisse des Mr. Green" in der P3

29.06.2021 | Stand 08.07.2021, 3:33 Uhr
Zwischen Ehrlichkeit und Angst: Toni Schatz brilliert als Mr. Green in Susanne Feiners szenischer Einrichtung in der P3. −Foto: Schaffer

Ingolstadt - In bestimmten Kreisen hat er durchaus eine Art Berühmtheit erlangt.

Ihm ist nämlich etwas zugestoßen, das nur extrem selten vorkommt. Also mit fast gegen Null gehender Wahrscheinlichkeit. Was genau passiert ist? Das enthüllt Mathe-Nerd und Nachhilfelehrer Alan Green (Toni Schatz) den amüsiert staunenden Zuschauern allerdings erst nach mehreren ausschweifenden Anläufen. Denn seinem Gegenüber ist er gedanklich immer schon meilenweit voraus. Verliert sich in gefühlt ungefähr einer Million mentalen Abzweigungen. Weshalb es ihm als mathematischem Genie auch so schwer fällt, sich auf das "Niveau" seiner Schüler herabzulassen. Als Pessimisten würde er sich trotzdem nicht bezeichnen. Eher als Realisten. Oder - musikalisch betrachtet - als "Moll-Menschen". Weil man seine "Tonart" nun mal in den Genen trägt.

Erst nach und nach kommt über sprunghafte Umwege die ganze, die wahre Geschichte ans Licht: Früher war Alan ein Verbrecher, ein mieser Schurke, der mit seinem väterlichen Komplizen in Häuser einbrach und Diebstähle beging. Auf einem dieser Beutezüge wurde er mit einem Gewehrkolben bewusstlos geschlagen, erlitt dabei ein Schädel-Hirn-Trauma. Seitdem ist er ein komplett anderer Mensch, hat im Gefängniskrankenhaus die vollkommene Schönheit der Kreiszahl Pi entdeckt und sieht plötzlich überall Fraktale, also geometrische Formen, in purer Harmonie. Zugleich erwachte sein moralisches Gewissen, so dass er - wenn auch unabsichtlich - die Seiten wechselte. Jetzt gehört er zu den "Guten", den Anzugträgern, ganz seriös im gebügelten Hemd und mit Krawatte. Von seinem alten Ich sind nur die Taffheit und die Konsequenz geblieben. Seine größte Sorge ist es, wieder rückfällig, wieder kriminell zu werden. War er damals zufriedener als heute? Hatte diese radikale Wendung in seinem Leben einen bestimmten Sinn? Nicht nur bei diesen Fragen stößt er an die Grenzen des Berechenbaren.

Immerhin gibt es da ja auch Hannah ("mit h hinten"), die Ärztin mit diesem unvergleichlichen Sonnenaufgangs-Lächeln, wegen der er seit vier Tagen erfolglos Beruhigungstee trinkt, aufgewühlt zwischen Schreibtisch und Lesesessel hin und her wandert - und doch wieder auf Flaschenbier umsteigt. Nicht nur ihr Name versinnbildlicht für Alan die ideale Achsensymmetrie, da er als sogenanntes "Palindrom" vorwärts und rückwärts gelesen exakt gleich lautet - sogar ihre Haare fallen absolut synchron in einer perfekten Sinuskurve.

Mit tiefgründigem Humor, originellem Gespür für Pointen und klugem Gestaltungswitz hat Autorin Susanne Feiner ihr Monologstück "Die erstaunlichen Erkenntnisse des Mr. Green" angelegt - und zudem auch Regie bei dieser als szenische Lesung präsentierten Komödie geführt. Dabei spart sie nicht mit subtil eingestreuten, ironischen Seitenhieben gegen die Automobilbranche, die Pharma- und Rüstungsindustrie, gegen den Finanz- und Versicherungssektor oder die Politik. Die Freude darüber, dass die lange geplante und mehrfach verschobene Uraufführung nun endlich in der Ausweichspielstätte des Altstadttheaters, der ausverkauften Kulturhalle P3, über die Bühne gehen konnte, war ihr in ihrer launigen Begrüßung deutlich anzumerken.

In Schauspieler Toni Schatz hat sie einen wunderbaren Darsteller gefunden, der alle Facetten von Alans höchst eigentümlichen und gleichzeitig so herzerwärmend sympathischen Wesenszügen eindringlich verkörpert. Seine Zerrissenheit zwischen Ehrlichkeit und Angst, zwischen nüchterner Neutralität und sinnlichem Empfinden, zwischen dem Wunsch, "normal" und trotzdem irgendwie besonders zu sein. Seinen Wutausbruch, wenn ihm in einer Art Flashback erneut die Sicherungen durchbrennen, weil er sich daran erinnert, wie er im Supermarkt mit ansah, dass ein Vater seinem Sohn eine Ohrfeige verpasste. Die düsteren Selbstzweifel und Selbstmordgedanken, die ihn immer wieder beschleichen, als er seine in einem leeren Pizzakarton versteckte Ersatzpistole herausholt, die er eigentlich längst entsorgen wollte. Das zitternde Feuerwerk der Emotionen, das in ihm explodiert, während sein umfassendes Geständnis an Hannah womöglich schon zu spät kommt.

Eine Theaterstunde voll vergnüglicher Unterhaltung, voll Nachdenklichkeit, voll raffinierter Auseinandersetzung über die Wahrscheinlichkeit des Gelingens oder Scheiterns, über die Entscheidungsfreiheit zwischen gut und böse, über Integrität und Aufrichtigkeit, über Zufall und Glück. Langer, jubelnder Beifall am Schluss.

DK