Ingolstadt
Leben braucht Courage

Großer Applaus: Leni Brem inszeniert Mark St. Germains charmante Komödie "Die Tanzstunde" zum Saisonstart im Ingolstädter Altstadttheater

21.09.2018 | Stand 23.09.2023, 4:14 Uhr
"Tun wir so, als hätten wir Hände geschüttelt." Senga (Katrin Wunderlich) und Ever (Philip Schwarz) nähern sich an. −Foto: Wobker

Ingolstadt (DK) "Bitte helfen Sie mir.

Falls Sie es an meinem Tonfall nicht erkennen, dies hier ist Verzweiflung", sagt Ever mit ruhiger Stimme. Seit sieben Jahren, vier Monaten und 23 Tagen wohnt er im Apartment 4c dieses New Yorker Hauses. An diesem Tag klopft er zum ersten Mal an der Tür seiner Nachbarin Senga und bittet - um eine Tanzstunde. "Es kommt eine soziale Verpflichtung auf mich zu und da möchte ich möglichst wenig auffallen. " Ever ist sonderbar. Nicht nur, dass er sich sprachlich höchst komplex ausdrückt, Blickkontakt meidet und Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion hat - er bietet für diese Tanzstunde auch 2153 Dollar. Für eine Tanzstunde! Senga ist alarmiert. Zunächst, weil sie das absurd hohe Honorar als unmoralisches Angebot missversteht. Dann ist sie vor allem - wütend. Auf Ever. Sein Ansinnen. Aber vor allem auf sich selbst. Auf ihren Körper, der nicht mehr funktioniert. Seit ihr Bein bei einem Verkehrsunfall irreversibel beschädigt wurde, kann die Tänzerin nicht mehr tanzen. "Aber unterrichten", beharrt Ever. "Boxtrainer boxen nicht mit ihren Boxern. Lebensberater leben nicht Ihr Leben. " Senga lässt sich schließlich auf Evers Vorschlag ein und es entspinnt sich in der Folge eine spannende, weil stets überraschende Beziehung zwischen zwei Außenseitern: dem Broadway-Star mit zerschmettertem Knie und dem Asperger-Autisten, der sein Universitätsprofessoren-Dasein zwar perfekt organisiert hat, aber aufgrund seiner Entwicklungsstörung völlig vereinsamt ist.

"Die Tanzstunde" hat Mark St. Germain seine berührende Komödie über dieses ungleiche Paar genannt, mit dem das Ingolstädter Altstadttheater am Donnerstagabend seine Saison eröffnete. Unter der Regie von Leni Brem spielen sich Katrin Wunderlich als Senga Quinn und Philip Schwarz als Ever Montgomery in die Herzen der Zuschauer.

Denn die Komponenten, die der amerikanische Autor in diesem Stück zusammenfügt, erweisen sich als äußerst explosiv. Senga ist temperamentvoll, leidenschaftlich und schlagfertig. Nicht umsonst war ihr erster Berufswunsch Wonder Woman. Und Ever ist nicht einfach nur ein verschrobener Nerd, er ist in seinem Autismus ein bisschen wie aus der Welt gefallen. Er leidet unter sensorischer Überempfindlichkeit. An einem Mangel an Empathie. Es fällt ihm schwer, Gesichtsausdruck und Körpersprache seines Gegenübers zu interpretieren. Es fällt ihm schwer, den eigenen Tonfall zu modulieren. Und für Smalltalk ist er völlig unbegabt. Es kann Menschen nicht in die Augen sehen. Und obwohl er sich eingerichtet hat in einem Leben voller Missverständnisse, sehnt er sich doch nach Normalität.

Deshalb will er tanzen lernen - für die Preisverleihung. Aber weil er sich auch vor Körperkontakt fürchtet, stellt das Senga vor ein Dilemma. Also studieren sie nicht nur Bewegungen zur Musik ein, sondern üben auch Händeschütteln, Wangenküsse, Umarmungen - was durch Evers verkrampfte Vermeidungsstrategien natürlich herrlich komisch wirkt. Doch nicht nur das Spiel gegen den eigenen Körper, das Philip Schwarz bei seinem Ever virtuos beherrscht, die Umständlichkeiten, die Imitationsversuche, das monotone Sprechen im Gegensatz zu Katrin Wunderlichs hinreißend lebendiger, sinnlicher, ungestümer Senga bergen großen Unterhaltungswert. Auch die Dialoge sind pointiert und temporeich und ziehen ihren Witz oft daraus, dass Ever alles wortwörtlich nimmt - und unverblümt die Wahrheit sagt. Und weil sich die beiden im Laufe der Zeit doch näher kommen und peu à peu ihre Kindheitstraumata, Lebenslügen, Verletzungen entblößen, entwickelt sich bei aller Komik und der märchenhaften Love Story eine berührend poetische Geschichte mit Tiefgang.

Regisseurin Leni Brem hat sie bittersüß, zart und eindringlich zugleich auf der kleinen Bühne des Altstadttheaters in Szene gesetzt. Mit Charme und Leichtigkeit, im beschwingten Szenenwechsel und mit einem hervorragenden Schauspielerduo, das nach etwa 100 Minuten mit langem Applaus gefeiert wird.

Weitere Vorstellungen: 28. September, 12. Oktober, 9. November, 13. Dezember, jeweils 20.30 Uhr.

Anja Witzke