Kühne Träume von Mensch und Maschine

"Liebe" hat das Stadttheater Ingolstadt als Motto der Spielzeit 2019/20 gewählt.

03.04.2019 | Stand 23.09.2023, 6:30 Uhr
Um die Liebe drehen sich die Produktionen der kommenden Spielzeit - auch als Gegenkonzept zum Hass. −Foto: Hauser

"Liebe" hat das Stadttheater Ingolstadt als Motto der Spielzeit 2019/20 gewählt. Neben dem Klassiker "Romeo und Julia" sind gleich mehrere Uraufführungen und ein neuer Futurologischer Kongress geplant. Zum Auftakt inszeniert Claus Peymann Fleißers "Fegefeuer".

"Liebe" heißt das Spielzeitmotto des Stadttheaters Ingolstadt in der kommenden Saison. "Auf den ersten Blick ein unpolitisches Thema", meint Intendant Knut Weber. "Ist es aber nicht. Wenn man über das Funktionieren oder Scheitern von Liebesbeziehungen nachdenkt, kommt man schnell auf Strukturen, die unseren Alltag und unsere Gesellschaft bestimmen. Und da befinden wir uns schnell mitten im spätkapitalistischen System. Und natürlich denkt man auch über das Gegenteil nach." Und die Frage: "Welches Konzept gegen den Hass haben wir?", fügt Dramaturgin Judith Werner an. "Aber wir haben uns für die positive Setzung entschieden."

Das Thema Liebe zieht sich durch die gesamte Dramenliteratur. Natürlich steht Shakespeares Tragödie "Romeo und Julia" über das berühmteste Liebespaar der Weltliteratur im Zentrum des Spielplans. Fleißers "Fegefeuer in Ingolstadt", die Geschichte zweier ausgestoßener junger Menschen, die sich im Fegefeuer der Gesellschaft wiederfinden, und Tschechows "Drei Schwestern", die sich von der russischen Provinz in ein aufregenderes Leben "nach Moskau!" träumen, sieht Intendant Weber als Klammern. "Dazwischen gibt es eine Reihe von Stücken, die wie Satelliten um das Kernthema Liebe kreisen und dabei verschiedenste Aspekte aufgreifen."

Der große Claus Peymann wird die Spielzeit in Ingolstadt mit dem Fleißerstück eröffnen. Ein Paukenschlag! "Dass er sich für das ,Fegefeuer' entschieden hat, finde ich großartig, weil das das Unfertigere, das Rauere ist, was man an der Sprache und der Figurenführung merkt, die sehr an den frühen Brecht erinnert", erklärt Weber. Er erwartet sich von dieser künstlerischen Zusammenarbeit, "einen zusätzlichen Energieschub für das Ensemble". Und bei dieser Prominenz natürlich auch: "ein volles Haus". Neben der Fleißer kommen auch "ihre Söhne" zu Wort. Denn so hatte die Ingolstädter Autorin Rainer Werner Fassbinder, Martin Sperr und Franz Xaver Kroetz in einem Aufsatz bezeichnet. Für deren Entwicklung war ihr Schaffen von besonderer Bedeutung.

Donald Berkenhoff wird Rainer Werner Fassbinders Science-Fiction-Klassiker "Welt am Draht", der 1973 als ARD-Zweiteiler lief, auf die Bühne bringen. In dieser Zukunftsvision wird angeblich zu Forschungszwecken von einem privaten Unternehmen eine computeranimierte Welt eingerichtet, in der sich wirtschaftliche und soziale Entwicklungen simulieren lassen, um Prognosen treffen zu können. Das Stück wird im Zusammenhang mit dem "Futurologischen Kongress III" gezeigt.

Weil die Resonanz auf das dreitägige, großangelegte Infotainment-Spektakel aus Wissenschaft, Forschung, Technik und Kunst im vergangenen Sommer so gewaltig war, hat das Stadttheater beschlossen, die Auseinandersetzung mit den Themen Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und Robotik weiterzuführen. Noch in diesem Sommer wird es einen Jungen Futurologischen Kongress zur Bildung geben. In der nächsten Spielzeit fragt Kongress Nr. III dann nicht nur, was nach der Digitalisierug kommt, sondern wo die Thematik überhaupt ihren Ursprung hat. Neben verschiedenen Projekten und Diskussionsveranstaltungen im Theater ist eine Zugfahrt durch das Altmühltal geplant "mit Texten der deutschen Romantik" und inszenierter Natur.

Neue Oberspielleiterin

Mareike Mikat wird neue Oberspielleiterin am Stadttheater Ingolstadt. Sie wurde 1978 in Frankfurt (Oder) geboren. „In den 90er-Jahren war ich Teil dieser Generation Zonenkinder. Ich habe mich politisch stark engagiert, aber der Freiraum im Theater schien mir größer“, erzählt sie über ihren Weg zum Theater. Sie studierte zunächst Theaterwissenschaften an der Humboldt-Universität in Berlin, anschließend Regie an der Ernst-Busch-Hochschule.

Seit 1998 inszeniert sie an vielen Theatern, nicht nur in Berlin, sondern auch in Stuttgart, Karlsruhe und München. In ihrer beeindruckenden „Baal“-Produktion in Augsburg besetzte sie die Titelrolle mit einer Frau. Seit ihr Mann Andrej Kaminsky am Staatstheater Augsburg engagiert ist, lebt die Familie (der gemeinsame Sohn ist vier Jahre alt) dort. In Ingolstadt wird Mareike Mikat Shakespeares „Romeo und Julia“ und Nina Segals „Big Guns“ inszenieren.

Ein weiteres zentrales Projekt ist "Hunger und Gier", eine Überschreibung von Engelbert Humperdincks spätromantischer Oper "Hänsel und Gretel" mit der Musik von Walter Lochmann und dem Text von Knut Weber: "Bei Humperdinck geht es um die Frage der Armut. Das ist heute höchstens in der Dritten Welt noch ein Thema. Bei uns geht es um Gier. Weil die Kinder in unserer Fassung noch gieriger sind als die Eltern, müssen sie das Haus verlassen und verirren sich in einem modernen Wald, den wir in der Frankfurter Großstadt angesiedelt haben. Nach vielen Irrungen und Wirrungen landen sie irgendwann in Indien, in einem Kontinent mit den größtmöglichen Widersprüchen. Im Zentrum der Metropole Mumbai befindet sich Bollywood. Eine Illusionsfabrik. Nichts anderes ist auch das Hexenhaus. Das ganze Projekt wird thematisch angedockt an den Cum-Ex-Skandal, den größten Steuerskandal der Bundesgeschichte."

Als weitere Uraufführung ist ein Stück von Werner Fritsch über Therese von Konnersreuth geplant, eine Bauernmagd, die als katholische Mystikerin durch ihre angeblichen Stigmata bekannt wurde. Judith Werner wird diesen Monolog in Szene setzen. "Ich finde, dass dieses Phänomen der Therese von Konnersreuth, die zu einer Art religiösem Popstar wurde in der Region, sehr viel über den Glauben und den Umgang mit Glauben erzählt", erklärt sie.

Daneben wartet der Spielplan mit spannenden zeitgenössischen Stücken von Lutz Hübner, Nina Segal, Wolfram Lotz oder Ingrid Lausund auf, mit Klassikern wie Shakespeare, Tschechow und Gogol und literarischen Adaptionen von Daniel Kehlmanns "Tyll" oder Herman Melvilles "Moby Dick".

Julia Mayr, Leiterin des Jungen Theaters, freut sich nicht nur über eine zusätzliche Schauspielerin im Team, sondern auch auf unterschiedliche Formate und vielfältige Regiehandschriften. Besonders aber auf die Produktion "Rosablau. Die Welt in zwei", "denn das Thema, wie Mädchen und Jungs angeblich sein müssen,  welche Farbe ihre Kleidung haben sollen, mit welchen Spielzeugen sie zu spielen haben und wie sie sich gemäß der Zuschreibung ihres Geschlechts  nach verhalten sollen, beschäftigt uns schon seit längerem".

Und in der Leitungsebene setzt man verstärkt auf Frauen: "Mit Mareike Mikat als Oberspielleiterin, Judith Werner als Chefdramaturgin und Julia Mayr als Leiterin des Jungen Theaters sind dann drei zentrale künstlerische Positionen in der Verantwortung junger Frauen", sagt Knut Weber. "Das finde ich eine gute Setzung."
 

Der Spielplan

Fegefeuer in Ingolstadt von Marieluise Fleißer, Regie: Claus Peymann, 28. September, Großes Haus
Lenya Story von Torsten Fischer und Herbert Schäfer (Text), Kurt Weill (Musik), Regie: Tobias Hofmann, 3. Oktober, Studio
Peter, Paul & Mary Regie: Niko Eleftheriadis 10. Oktober, Kleines Haus
Romeo und Julia von William Shakespeare, Regie: Mareike Mikat, 18. Oktober, Großes Haus
Big Guns von Nina Segal, Regie: Mareike Mikat, 15. November, Kleines Haus
Furor von Lutz Hübner und Sarah Nemitz, Regie: Simon Dworaczek, 29. November, Studio
Der kleine Horrorladen von Alan Menken, Regie: Philipp Moschitz, 6. Dezember, Kleines Haus
Der Revisor von Nikolaj Gogol, Regie: Sebastian Kreyer, 7. Dezember, Großes Haus
Welt am Draht nach dem Film von Rainer Werner Fassbinder, Regie: Donald Berkenhoff, 31. Januar 2020, Großes Haus
Einige Nachrichten an das All von Wolfram Lotz, Regie: Maaike von Langen, 7. Februar 2020, Kleines Haus
Hunger und Gier (UA) nach Motiven von Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“, Musik: Walter Lochmann, Text und Regie: Knut Weber 22. Februar 2020, Großes Haus
Drei Schwestern von Anton Tschechow, Regie: Christoph Mehler, 27. März 2020, Großes Haus
Tyll nach Daniel Kehlmann, Regie: Alexander Nerlich, 28. März 2020, Kleines Haus
Vor Sonnenaufgang von Ewald Palmetshofer nach Gerhart Hauptmann, Regie: Jochen Schölch, 24. April 2020, Großes Haus
Bin nebenan von Ingrid Lausund, Regie: Niko Eleftheriadis, Studio, (in Planung)
Zukunft Demokratie (Arbeitstitel) von Svenja Viola Bungarten (in Planung)
Zeichen und Wunden der Therese von Konnersreuth. Vision einer Vision (Arbeitstitel) von Werner Fritsch, Regie: Judith Werner, 8. Mai, Downtown
In achtzig Tagen um die Welt nach Jules Verne, Regie: Tobias Hofmann, 19. Juni 2020, Turm Baur

Junges Theater:

Rose und Regen, Schwert und Wunde nach William Shakespeare, Regie: Julia Mayr, 5. Oktober, Werkstatt
Der Räuber Hotzenplotz von Otfried Preußler, Regie: Tobias Hofmann, 16. November, Großes Haus
Rosablau. Die Welt in zwei, Projektentwicklung, Regie: Christina Schelhas, 15. Dezember, Werkstatt
So groß – so klein, Projektentwicklung von Kathrin Lehmann, 12. Januar 2020, Großes Haus, Foyer
Die Zertrennlichen von Fabrice Melquiot, Regie: Jule Kracht, 1. März, Werkstatt
Moby Dick nach Herman Melville, Regie: Markolf Naujoks, April 2020, Halle 9

Gastspiele:

Siren, Danish Dance Theatre, ab 24. Oktober
Die Schöne und das Biest, Stadttheater Brno (Brünn), ab 4. Januar 2020
Ein Amerikaner in Paris, Gershwin, Euro Studio Landgraf, ab 16. Januar 2020
Classy Classics, Gauthier Dance, ab 4. Februar 2020
Ariadne auf Naxos, Strauss/Hofmannsthal Staatstheater Augsburg, ab 3. April 2020
Die Entführung aus dem Serail, Mozart, Meininger Staatstheater, ab 3. Juni 2020

Anja Witzke