München
Klassik mit Mut zum Experiment

Daniel Grossmann gestaltet mit dem Jewish Chamber Orchestra spannende Programme - zuletzt Operetten von Offenbach

12.02.2019 | Stand 23.09.2023, 5:56 Uhr
Entschlüsselt den Witz in der Partitur: Daniel Grossmann leitet seit 2005 das Jewish Chamber Orchestra Munich. −Foto: Dashuber

München (DK) Daniel Grossmann (41) liebt das Experiment. Dafür beneidet er das Theater, das in diesem Feld "viel freier ist" als die klassische Musik. Einfach eine Brahms-Sinfonie nur mal so aufzuführen, hält er für sinnlos. "Das funktioniert nicht", sagt er. "Die Menschen wollen wissen, warum wir etwas spielen. Kunst muss einen Bezug zur Gegenwart haben." Und: "Ich finde, dass gerade in der klassischen Musik viel zu wenig gewagt wird. Das ist auch der Grund, warum junge Leute nicht mehr in diese Konzerte gehen."

Aber der Leiter des Jewish Chamber Orchestra Munich gibt auch zu, dass ein solcher Ansatz schnell mal scheitern kann: "Das kann auch in die Hose gehen." Aber immerhin, es wurde etwas gewagt.

Wie jetzt in München, als das Spezialistenorchester die beiden selten gespielten Operetten "Oyayaye, ou la Reine des Íles" und "Pomme d'api" von Jacques Offenbach in den Münchner Kammerspielen auf die Bühne brachte. Statt die satirischen Werke szenisch anzugehen, hat Dennis Metaxas, Regieassistent bei den Kammerspielen, einen wild assoziierenden Videokommentar dazu gedreht. Schließlich sei "Oyayaye" zutiefst fremdenfeindlich und "Pomme d'api" frauenfeindlich.

Mag schon sein. Aber muss man deshalb mit toternster politischer Korrektheit den Spielverderber geben? Muss den Stücken jeder Witz ausgetrieben werden mit Hinweisen auf Kolonialismus, Militarismus und Fremdenfeindlichkeit in unserer Gesellschaft? Kann man die Storys der beiden Operetten nicht einfach als das verstehen, was sie wahrscheinlich sein sollen: intelligente Unterhaltung. Schließlich bewegen sich fast alle guten Witze irgendwie am Rande der politischen Inkorrektheit.

Und "Oyayaye" und "Pomme d'api" sind dafür nicht einmal besonders schockierende Beispiele. In "Oyayaye" wird ein Kontrabassist, der ein Solo verpasst zu den Menschenfressern ans Ende der Welt geschickt und muss mit allen Mitteln der Unterhaltung um sein Leben kämpfen, bis er schließlich darauf kommt, mit der Eingeborenen-Königin, die nur Kauderwelsch von sich gibt, mit einfachen Tröten wilde Musik zu machen. Und bei "Pomme d'api" bandelte ein süßes "rotbackiges Äpfelchen" gleich mit Onkel und Neffen an und bezirzt sie, obwohl sie nicht einmal kochen kann: Es gibt sicher schlimmere Entgleisungen im Felde der leichten Muse. Stattdessen erschlägt Metaxas Offenbach mit der Moralkeule. Sein Video präsentiert eine endlose nächtliche Autoreise, zeigt München auf dem Kopf, zelebriert Kritik an männlicher Selbstherrlichkeit von Orest und Agamemnon bis zu Markus Söder. Und führt in die frauenfeindliche Familienwelt von Barbie und Ken. Dazu sind frei assoziierende Texte und Zitate eingeblendet, die kaum etwas mit den netten Operetten-Liedern zu tun haben. Anstrengende, schwerverdauliche künstlerische Kost ist das, wenn man von den unfreiwillig komischen Momenten absieht.

Lieber konzentriert man sich da auf die Musik und auf die sehr genau vorgehenden Solisten, die Sopranistin Laura Nicorescu, den Bariton (und Musikförderungspreisträgers des Konzertvereins Ingolstadt) Andreas Burkhart und den Tenor Joshua Owen Mills. Sowie das jüdische Orchester, das unter Grossmanns Leitung sehr ironisch zwischen sinfonischem Pomp und heiter-ausgelassener Melodienseligkeit pendelte: ein echtes Vergnügen.

Auch wenn das Experiment diesmal vielleicht für die einfach gestrickten Operetten etwas überambitioniert wirkte: Wagnisse machen gerade in der klassischen Musik Sinn. Und Grossmann füllt da zusammen mit seinem Orchester in München eine wichtige Marktlücke.

Das 2005 gegründete Orchester, dass sich erst vor wenigen Monaten umbenannt hat (vorher hieß es Orchester Jakobsplatz München) und in dem längst nicht nur Juden musizieren, will mehr als nur die jüdische Kultur pflegen. Grossmann versucht in all seinen Konzerten, ungewöhnliche Wege zu gehen. So führt er regelmäßig bekannte Oratorien auf, allerdings oft ohne die Rezitative, angereichert mit Lesungen biblischer und moderner Texte. Demnächst plant Grossmann mit seinem Orchester eine Synagogentour durch Bayern. Denn inzwischen sind in vielen kleinen Orten die ehemaligen Gebetshäuser renoviert worden, jüdische Kultur lebt dort allerdings schon längst nicht mehr. Grossmann wird frühe Mahler-Lieder aufführen und will damit die Frage der "freiwilligen oder unfreiwilligen Assimilation" des Wiener Komponisten diskutieren. Tourauftakt ist der 11. März mit einem Konzert in der Karlshalle Ansbach, dann geht es weiter zu den Synagogen nach Kitzingen, Hainsfarth, Bopfingen-Oberdorf und Suzbach-Rosendorf.

Für Grossmann ist das ein weiterer Versuch, sein Orchester zu öffnen und auf die jüdische Kultur aufmerksam zu machen. So wie er es im August vergangenen Jahres schon einmal getan hat, als das Orchester beim Schweizer "Tatort: Die Musik stirbt zuletzt" mitwirkte. Auch wenn Grossmann kein "Tatort"-Fan ist, gibt er zu: "Das war schon wichtig. Wir erhielten eine Aufmerksamkeit, die ein normales Orchester sonst niemals bekommen kann." Vor allem aber: Das Orchester wagte ein weiteres musikalisches Experiment.

Jesko Schulze-Reimpell