Ingolstadt
Stelldichein der Grammy-Gewinner

10.11.2019 | Stand 02.12.2020, 12:39 Uhr
Der britische Schlagzeuger Simon Phillips. −Foto: Weinretter

Ingolstadt (DK) Newcomer, Legenden und alte Bekannte: Die beiden Jazzpartys boten eine hochkarätige Besetzung. Soul, Blues oder Jazzrock waren ebenso vertreten wie Miniaturen aus dem Barock oder moderne Soundcollagen.

 

JAZZPARTY I - BUNTER MUSIKMIX

Die roten kurzen Korkenzieherlocken fliegen durch die Luft, die goldenen Lamettafäden an den Jackenärmeln flirren im Licht der Bühnenscheinwerfer, wenn Avery Sunshine in die Tasten ihres E-Pianos haut. Die quirlige Soulsängerin kann keine Minute still sitzen. Sie tanzt am Piano, während sie am vergangenen Freitagabend bei der ersten Jazzparty der Ingolstädter Jazztage Songs von Aretha Franklin, James Brown, Prince oder eigene Kompositionen performt. Dabei verwandelt sich ihre Stimme im NH Hotel Ingolstadt wie ein Chamäleon: mal warm und samtig, dann wiederum energetisch klar oder gefühlvoll und hauchig. Begleitet wird die 44-jährige von ihrem Mann, Dana Johnson, an der Gitarre und an den Drums – und das gleichzeitig. Die beiden sind ein perfekt eingespieltes Duo und großartige Improvisateure. Sie harmonieren mit ihrem Publikum: Avery Sunshine holt die Menschen immer wieder mit in ihr Programm, die bei Carole Kings „You’ve got a friend“ oder „Sunday Morning“ von „Maroon5“ mitgrooven und mitsingen.

Ruhiger geht es auf der zweiten Bühne im NH Hotel zu. Graues Hemd, grauer Bart, schlichte Gitarre, aber glänzende Musik – John Scofield hatte sich am Freitag gemeinsam mit Jon Cleary am Flügel und Gesang dem erdigen Blues verschrieben. Zusammen jammen sie sich durch „I Got Jesus And That’s Enough” oder „Until The Real Thing Comes Along” aus den 40er- und 60er-Jahren. Aber auch mit etwas Reggae mit Dennis Browns „Money in my Pocket” würzen sie ihren Auftritt – und das Publikum genießt das virtuose, aber entspannte Gitarren- und Klavierspiel der beiden Künstler. Jung und Alt sind Gäste der Jazzparty und flanieren zwischen den Bühnen hin und her. Tanzen mit, haben es sich auf dem Boden gemütlich gemacht und träumen bei den ruhigen Stücken mit geschlossenen Augen dahin.

Der 67-jährige Gitarrist John Scofield arbeitete bereits unter anderem mit Jazzgrößen wie Miles Davis, Herbie Hancock oder Billy Cobham zusammen. Seine Erfahrung und sein Talent präsentiert er auch bei der Jazzparty in Ingolstadt. Bereits seit 1984 holt die Stadt im Herbst Größen der Jazzmusik an die Donau. Das hat Festivalleiter Jan Rottau auch in diesem Jahr geschafft und die „Sisters in Jazz“ für die Jazzparty gewinnen können. Das international zusammengesetzte Ensemble um Sängerin Cæcilie Norby bringt ein Frauenprogramm auf die Bühne. So verjazzen die fünf Damen zum Beispiel Dolly Partons „Jolene“. Während Cæcilie Norby dabei den Gesangsparty mit einem großartigen Tonumfang übernimmt, bereiten Anke Helfrich am Piano, Bassistin Lisa Wulff und Cornelia Nilsson am Schlagzeug das Bett für die Songs. Saxofonistin Nicole Johänntgen garnierte die Stücke mit mal gefühlvollen, mal rasanten und mal experimentellen Soli, bei denen sie ihrem Instrument fast percussion- artige Töne entlockte. Aber auch Cæcilie Norby experimentierte sich durch den Abend mit ihrem Scat-artigen Gesang, der fast etwas an Mouth-Percussion erinnerte. Bei ihrem Stück „Puzzeld“ fügt sich dieser Gesangsstil nahtlos in die Samba-Anklänge ein. Oft duelliert sich die 55-jährige Sängerin mit Lisa Wulff am Kontrabass. Die Finger der Bassistin fliegen dabei nur so über die Saiten von oben nach unten am Griffbrett ihres Instruments – immer rhythmisch und stets im Zwiegespräch.

Mittlerweile haben Avery Sunshine und Dana Johnson die Bühne für „Protocol“ frei gemacht. Die Band rund um den 62-jähringen renommierten Schlagzeuger Simon Phillips bringt geballten Sound mit nach Ingolstadt: Gitarre, Keyboard, Saxofon Bass und Schlagzeug intonieren zusammen prägnante Riffs, die die einzelnen Instrumentalisten anschließend in ihren Soli interpretieren. Bei Stücken wie „Circle Seven“, „You Can’t But You Can” oder „First Orbit” zeigen die Bandmusiker ihr Können: Keyboarder Otmaro Ruiz arbeitet sich die Klaviatur rasant rauf und runter, Alex Sill fliegt nur so über die Bünde seiner Gitarre und Jacob Scesney am Saxofon schwingt sich in ungeahnte Höhen seines Instruments auf. Bassist Ernest Tibbs und Simon Phillips am Schlagzeug bilden oft die Basis für die Soli, zeigen aber auch selbst mit virtuosen Einlagen, dass sie ihr Handwerk mehr als beherrschen. Am Ende ihres Programms schnappt sich Simon Phillips sein Handtuch, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Er und seine Bandkollegen haben einiges geleistet – und dem Ingolstädter Publikum einen abwechslungsreichen Partyabend geboten, genauso wie Avery Sunshine, John Scofield und Jon Cleary oder die „Sisters in Jazz“.

Regina Greck

JAZZPARTY II - HOCHGLANZ-FUSION UND TAKT-DERWISCHE

Was für ein Abend! Wohl selten hat man auf einer der Partys der Ingolstädter Jazztage Musik in solcher Bandbreite gehört: Von barocken französischen Miniaturen aus dem 17. Jahrhundert über Fusion in Hochglanzpolitur bis  hin zu den mitunter echt  abgedrehten Sound-Collagen der Wooten-Brothers reicht das Spektrum, das am Samstag die Grenzen des Jazz wieder mal neu ausgelotet hat.     Und das auf höchstem Niveau: Insgesamt stehen da 17 Grammys auf der Bühne. 

Schon der Auftakt eröffnet neue musikalische Welten. Farangi – Du Baroque À L‘Orient heißt  das Projekt des Ausnahme-Kontrabassisten Renaud Garcia-Fons und der Theorben-Virtousin Claire Antonini. Die 14-saitige Theorbe ist eine  Art  Laute  – und nicht wirklich ein Jazzinstrument, wie Garcia-Fons schmunzelnd sagt. Antonini zupft die Saiten unten und schlägt die oberen mit dem Daumen an, während Garcia-Fons  seinen Bass als Melodieinstrument gerne streicht, zupft oder mit dem Bogen anschlägt. Der Name Farangi – im Orient die Bezeichnung für einen Fremden – ist für das  Duo Programm: Französische Barockminiaturen aus dem 17. Jahrhundert verschmelzen mit traditionellen orientalischen  Stücken zu kunstvoll arrangierten Suiten:  Fein ziselierte Weltmusik zweier Grenzgänger zwischen Tradition und Moderne, zwischen Orient und Okzident.

Einflüsse vieler Kulturen vereinigt auch  Singer-Songwriterin Kimberose alias  Sängerin Kimberly Rose Kitson Mills, die mir ihrer französischen Band  auf Deutschlandtournee ist. Die 28-Jährige hat mit „Chapter One“ ihr Debütalbum im Gepäck und stellt etliche Stücke vor, so etwa „About Us“, „Reason“, „Needed You“ und andere mehr. Die Newcomerin mit ghanaisch-englischen Wurzeln ist   im Soul verwurzelt,  freilich ohne   bloß Standards zu kopieren,  und besticht mit Leidenschaft, einer betörenden Stimme und ungemein persönlichen, ehrlichen Songs aus eigener Feder. Unterstützt wird sie von einer höchst ambitionierten Band: Neben Alexandre DeLange (Keys), Remis Ferbus (Drums) und  Jeremy Louwerse (Bass) ist vor allem Gitarrist Kubix Guitsy zu nennen,  zweifacher Grammy-Gewinner.

Diese Zahl kann Spyro Gyro locker toppen: Sieben Grammys hat die Formation aus Buffalo im US-Bundesstaat New York schon einsammeln können. Anfang der 70er-Jahre gegründet, ist sie eine der wenigen Fusionbands, die den Sprung ins 21. Jahrhundert  geschafft haben. Jay Beckenstein (Sax), Tom Schuman (Keyboard) und Julio Fernandez (Gitarre) spielen seit 35 Jahren zusammen, Scott Ambush (Bass) kam 1992. Mit Neuling  Lionel Cordew (Schlagzeug) produzieren sie auch live einen Sound  wie aus einem Guss; Fusion in Hochglanzpolitur und bisweilen so perfekt, dass es fast  steril wirkt. Aber  nur fast. Denn die Profis wissen genau, wann sie bei Stücken wie „Carry on“, aus der Feder von Stephen Stills und   auf dem brandneuen, 31. Album „Vinyl Tap“, Dampf machen müssen. Sie können jedoch auch langsam spielen, ohne dass es langweilig wird, geben den Liedern Zeit, sich zu entwickeln, werfen sich die musikalischen Bälle zu, dass es eine wahre Freude ist (wie bei „Deep End“),  und wirken dabei völlig locker.   Als Profis wechseln sie im „Shaker Song“ aus den 70er-Jahren mühelos zwischen tanzbarem Latin-Groove und  rockigen Versatzstücken, nicht ohne zwischendurch  das Tempo zu verdoppeln. Dieser Band zuzuhören, macht einfach  Spaß.

Getoppt wird das   von den Wooten Brothers – aber nicht nur wegen ihrer zehn Grammys. „Fasten your seatbelt, it might get bumpy“, warnt Bruder Victor zu Beginn. Zehn Sekunden später ist klar, was er meint. Stücke wie „Two Times“,  „Pentagon Square“, „Holly Baba“, „Hero“ oder „Red Baron“ mit dem bekannten Miles-Davis-Klassiker „Jean Pierre“ als Intro sind rhythmisch teilweise völlig vertrackt. Ein Beispiel: Victor (Bass), Regi (Gitarre), Roy (Drums) und der langjährige Keyboarder der Steve Miller Band, Joseph Wooten, gelingt   das Kunststück,  in einer Nummer vom 11/8- bis zum 1/8-Takt alles zu spielen. Live und auf Ansage. Bassläufe mit eingespielten Loops, verfremdeter Gesang, soulige Anklänge, abrupte Tempiwechsel und mitunter  rasend schnelle Soli stehen in spannungsgeladenem Kontrast zu reduzierten, skalenhaften  Einlagen von Gitarre und  Keyboard. Regi  tappt gern mit dem Zeigefinger auf den Saiten, um sie im nächsten Moment zu slappen oder  wild zu durchstreichen. Die Wooten Brothers sprengen Grenzen üblicher Hörgewohnheiten – auch  mit ihrer Version „Sex Machine“ von James Brown zum Abschied. Aber sie machen es unglaublich funky und phänomenal gut.

Konventionell und fast schon Urlaub für die Ohren sind im Vergleich dazu die Late Night Musicians nach Mitternacht, die aber noch viele Zuhörer finden. Was für ein Jazzabend! 

Bernhard Pehl