Ingolstadt
Umjubelte Dylan-Premiere

20.12.2012 | Stand 03.12.2020, 0:41 Uhr

Die Zeiten mögen sich ändern, doch seine Lieder bleiben zeitlos: Stefan Leonhardsberger (Dritter von rechts) als Bob Dylan und ein blendend aufgelegtes Ensemble wurden vom Ingolstädter Publikum mit Standing Ovations gefeiert - Foto: Klenk

Ingolstadt (DK) Am Ende gab es Bravo-Rufe und Standing Ovations: Das Publikum im Ingolstädter Stadttheater feierte Heiner Kondschaks Inszenierung von "Dylan. The Times They Are A-Changin'" mit Stefan Leonhardsberger in der Titelrolle.

Sein Name ist Blind Boy Grunt. Oder Tedham Porterhouse. Oder Robert Milkwood Thomas. Oder Jack Frost. Er hieß Renaldo. Und auch mal Alias. Verwirrend? Also noch einmal: Sein Name ist Robert Allen Zimmerman. Er ist ein Mann mit Dutzenden von Identitäten, mit Hunderten von Liedern, hinter Tausenden von Masken. Er ist ein Künstler, der nicht zurückblickt. Er ist: Bob Dylan. Ihm, dem 71-Jährigen, einem der letzten noch lebenden, dabei rastlos aktiven Säulenheiligen der populären Musik, ist „Dylan. The Times They Are A-Changin’“ gewidmet, das jetzt in der poetischen, wunderbar witzigen, schauspielerisch wie musikalisch mitreißenden Inszenierung von Heiner Kondschak (auch musikalische Leitung) im Großen Haus des Stadttheaters Ingolstadt Premiere hatte.
 
So vielschichtig wie Dylans Persönlichkeit wirkt auch dieses Stück: Es lässt sich sehen als farbenprächtige Zeitreise durch die Jahrzehnte. Als skurrile, kapriolenhafte Freakshow mit – oft nur sekundenkurzen – Auftritten von Liz Taylor und Richard Burton, Marlene Dietrich und Muhammad Ali, John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow, Neil Armstrong und Timothy Leary, Marilyn Monroe und Monica Lewinsky, Janis Joplin und Jim Morrison. Vor allem aber als mal herrlich alberne, mal herzzerreißend anrührende Annäherung an das ewige Enigma Bob Dylan, den Mann, der – Rimbaud zitierend und das Spiel mit den Identitäten auf die Spitze treibend – von sich behauptet: „Ich ist ein anderer.“ Der in seiner eigenen, hermetisch abgeschotteten Welt versunken ist und doch – das große Dylan’sche Paradoxon – die Welt um sich herum widerspiegelt, ohne ihr teilhaftig zu sein. Der ob seiner unergründlichen Rätselhaftigkeit die ideale Projektionsfläche bietet für die Fantasien von Fans und die Theorien professioneller Musikdeuter. Der wie im Wahn seine Texte in die Tasten seiner Schreibmaschine hämmert, auf der Bühne seine Lieder rauschhaft zelebriert, den schnöden Alltag aber somnambul an sich vorbeigleiten lässt.

Stefan Leonhardsberger gibt diesem Dylan Gestalt und Stimme: Doch er imitiert nicht, er interpretiert, macht sich diese Figur zu eigen, und er tut dies reduziert, fast still, aber umso eindringlicher. Ob zu Beginn bei der Begegnung mit seinem Idol Woody Guthrie, für den er als blutjunger Bob so hingebungsvoll „This Land Is Your Land“ singt; ob als Zeremonienmeister im halb als Puppentheater, halb als Actionfilm inszenierten „Hurricane“ oder gegen Ende als altersweiser, vom Leben gebeutelter Bänkelsänger, der „The world has gone black before my eyes“ raunt: Bei Leonhardsberger stimmt jede Nuance, jede schräg gespielte Note, jede kleinste Bewegung. Ihm gelingt das Kunststück, einem die Person Dylan nach all den Jahrzehnten tatsächlich noch ein Stückchen näherzubringen, ihr neue Facetten abzugewinnen.

Nicht minder hoch einzuschätzen sind indes die Leistungen von Renate Knollmann, Marie Ruback, Thomas Schrimm und Peter Reisser, die mit großer Präzision und feiner Poesie ein riesiges Figurentableau zum Leben erwecken. Joan Baez etwa gibt Renate Knollmann mit frappierender Stimmkraft und genau der richtigen Mischung aus Selbstbewusstsein und Liebesschmerz, Thomas Schrimm als Martin Luther King („I have a dream“) ist ebenso ein Glanzlicht des Abends wie Peter Reissers Auftritt als Elvis Presley („Suspicious Minds“) oder Marie Rubacks Verkörperung von Marilyn Monroe. Zusammengehalten wird dieses Panoptikum aus Zeit- und Lokalkolorit, aus Liedern und Liebe, aus Kunst und Kalauern, aus Irrungen und Wirrungen von Olivia Wendts kauzigem, schnoddrigem, bisweilen rotzigem, das Geschehen aus der Distanz kommentierendem Conferencier Shakespeare, dem heimlichen Star des Abends.

Und es sind die Dylan-Songs, 19 an der Zahl, an denen sich die Handlung entlangbewegt. Der musikalische Leiter und Multiinstrumentalist Heiner Kondschak und seine atemberaubend musizierende Band – Ulrich Wangenheim (Saxofon, Flöte), Jerker Kluge (Bassgitarre), Alex Czinke (Gitarre) und Tobias Hofmann (Schlagzeug) – schaffen es, all die (teils radikal umarrangierten) Klassiker so zu spielen, dass man bisweilen das Gefühl hat, man höre sie zum ersten Mal. Wann hat „Forever Young“ zuletzt so emotional geklungen, wann „The Times They Are A-Changin’“ so voller Drive und Aufruhr, wann „Romance In Durango“ so selig besäuselt, wann „All Along The Watchtower“ und „Like A Rolling Stone“ so mitreißend? Kondschak und Co. verwandeln den Bühnenraum, vorne als Beatnik-Kemenate, dahinter als Mix aus Vaudeville-Theater und Jahrmarktsbude eingerichtet (Ausstattung: Ilona Lenk), spielend in einen Folkclub, einen Konzertsaal, ein Festivalgelände, eine farbenprächtige Hipster-Enklave.

Am Ende wird es ganz still: Dylan sitzt da, in Gedanken versunken dreht er an der Kurbel einer kleinen Spieldose, leise schweben Töne durch den Raum und formen sich zu „Blowin’ In The Wind“. Danach: Jubel, Bravo-Rufe, Standing Ovations für einen großen Theaterabend. Und zwei Zugaben: „One More Cup Of Coffee“ sowie „I Shall Be Released“. Nach dreieinviertel Stunden ist endgültig Schluss. Was für ein langer, seltsamer, anrührender, alberner, wunderschöner Trip das doch war.