Ingolstadt
Reise ins Unbekannte

Nächtlicher Spaziergang durch Traumwelten: Das Stadttheater Ingolstadt startet mit dem bildgewaltigen Spektakel "Ins Offene!" in die Spielzeit

21.09.2014 | Stand 02.12.2020, 22:13 Uhr

 

Ingolstadt (DK) „Plätze in Atlantis zu vergeben“, preist Matthias Zajgier im Pavillon der Möglichkeiten am Ende des Donaustegs an. „Halten Sie Ihre Taucherbrillen bereit. Für Damen gilt Badekappenpflicht. Nicht geeignet für Nichtschwimmer.“ Auch wenn die Projektionen Sonne, Strand, Spaß verheißen – nach Atlantis, diesem mythischen Inselreich, zieht es die wenigsten. Schließlich geht die Sage, dass Atlantis infolge einer Naturkatastrophe innerhalb eines einzigen Tages und einer unglückseligen Nacht untergegangen sei.

Also lieber in die Sonnenstadt? Oder ins Paradies? Erst mal nach Clayton, wo noch bis Mitternacht Personal für das Naturtheater von Oklahoma aufgenommen wird. „Wer Künstler werden will, melde sich! Wir sind das Theater, das jeden brauchen kann!“, heißt es in Kafkas „Amerika“. Edeltraud und Johann versuchen gerade ihr Glück.

Nur ein paar Schritte weiter befindet sich das Schlaraffenland, wo wie in Pieter Bruegels Gemälde dickwanstige Männer um einen Tischlein-deck-dich-Baum liegen – und Karlheinz Habelt von diesem Land liest, in dem Milch und Honig fließen und Genießen als größte Tugend der Bewohner gilt.

In den Bäumen hängen Wohnkäfige, Bushaltestellen haben sich in Stuben mit Gemütssesseln verwandelt. Auf der Schlosslände ist ein riesiger Schwimmer in einer anmutigen Kraulbewegung erstarrt. Die Bäume glotzen aus großen Augen in die Nacht. Die Freiheitsstatue versinkt in der Donau. Ein irischer Segen weht herüber. Hufgetrappel kündet ein Narrenschiff an. Irgendwo strolcht Kapitän Nemo herum.
 
 

Es ist Nacht. Samstagnacht. Die Nacht, in der das Stadttheater Ingolstadt die neue Spielzeit mit dem großen Spektakel „Ins Offene!“ eröffnet. Intendant Knut Weber und sein komplettes Haus haben mithilfe vieler Organisationen und Institutionen – von den Stadtwerken bis zum THW, von der Gärtnerei bis zur Bäckerei, von der Stadtwache bis zu den Johannitern – einen Theaterspaziergang inszeniert, der durch Sehnsuchtsorte führt. Sei es Utopia, die Goldene Stadt oder der Weltraum – zuvor gab es stets den Wunsch nach dem Unerforschten, dem idealen Lebensraum, dem Glück.

„Ins Offene!“ signalisiert Aufbruch und Veränderung. Und deshalb sieht man am Beginn dieser Reise, die das Publikum in zweieinhalb Stunden durch Nacht und Jahrhunderte, Philosophie und Literatur führen wird, eine Gruppe Emigranten (Olivia Wendt und die Martin Singers), gekleidet in dunkle Mäntel mit Kopftüchern oder Hüten, neben sich Koffer und Taschen. Nicht immer sind Reisen freiwillig. Und oft beschwerlich und gefährlich. Auf den Obelisken werden Abflugszeiten und Ziele projiziert: Sonnenstadt, Eldorado, glückselige Inseln. Durch ein schmales „Tor“, über das sich bunte Schirme spannen, setzt sich der Tross über den Donausteg in Bewegung. Da, im dunklen Fluss, spitzt die Freiheitsstatue heraus – Sinnbild auch für die Neue Welt. Lichter treiben auf dem Wasser. Ist das Lethe?

Knut Weber, Gabriele Rebholz und Donald Berkenhoff, die das Konzept für diesen Theaterspaziergang entworfen haben, illustrieren nicht einfach eine romantische heile Welt. Es geht ihnen um Sehnsuchtsorte – vergangene und moderne –, aber neben den Mythen eben auch um Beweggründe und Bedingungen. Und so erstrecken sich die Bilder, Szenen und Inszenierungen von der wirtschaftlich oder politisch motivierten Flucht über die Goldgräberstimmung bis zu Urlaubsreisen mit Südseeflair und der wissenschaftlichen Erkenntnissuche der Jetztzeit, wie sie sich etwa in der Weltraumforschung manifestiert.

Inspiriert von Simona Kochs Ingolstadt-Fotomontage aus der Serie „Stadt“, in der die Künstlerin den Theatervorplatz von allen zerstörerischen Spuren der Zivilisation bereinigt und ihn mit wild wucherndem Grün überzogen hat, haben Weber und sein Team versucht, dieses Bild in eine andere Sprache zu übersetzen. „Wie ein alchimistischer Prozess, in dem wir ein digital hergestelltes Bild in die analoge Welt überführen, mit Leben füllen, Geschichten erzählen, Emotionen wachrufen wollen“, erklärt der Intendant.

Und so oszilliert der Abend in einem bildgewaltigen Spektakel zwischen Menschheitsträumen und Zivilisationskritik. Da schreitet ein Astronaut im Raumanzug durchs Labyrinth, dort liegt der gefesselte Gulliver schnarchend am Ufer. Über eine Festtafel wächst Gras. Hier ist ein Brunnen voller Kopfgeburten, dort ein geflüstertes Angebot zwischen Autowracks. Außerdem zu erleben: ein Wasserfall, der vom Theaterbau stürzt, daneben eine echte Kuh, Narrenschiffe auf der Schlosslände, ein beleuchtetes Maisfeld, die ernste Frage: Seit wann gibt es Zeit, eine Blumenfrau, Meerjungfrau und Wolkenfee hinter Glas, Jules Verne und Robert Louis Stevenson, Durs Grünbein und Franz Kafka, „Itsy Bitsy Teenie Weenie“ und „Ode an die Freude“, Mackie Messer und der vitruvianische Mensch, ein Boot voller Sänger und Stockbrot am Lagerfeuer, bepflanzte Einkaufswagen und Lieder aus der Neuen Welt (Eva Maria Atzerodt und ihr Jugendkammerchor), Licht und Stille, Fortschritt und Frieden. Von Versprechungen und Verführungen, von Traum und Erwachen, von Umbruch und Absturz, von Stadt und Natur handelt dieser Abend – und von Geschichten, die sich um all das ranken.

Mit einem gewaltigen Kraftakt hat das Stadttheater mit all seinen Schauspielern, Mitarbeitern (die Werkstätten haben wahre Kunstwerke hervorgebracht) und einer großen Statisterie diesen Abend ermöglicht. Ein riesiges Areal wurde hier bespielt, begrünt, verwandelt (Skulpturen, Installationen, Video, Lichtlandschaften: Susanne Hiller, Luisa Rienmüller, Markus Jordan, Stefano Di Buduo, Dirk Gräff).

Vielleicht zu riesig. Ein bisschen verzettelte man sich in all den großen und kleinen Geschichten, waren die Zitate und Anspielungen auch nicht so leicht auf Anhieb zu durchdringen, blieb vieles rätselhaft. Und während die Bespielung des Flusses mit Nacht und Licht und Fantasie eine ganz eigene stille Poesie entwickelte, präsentierte sich der Theatervorplatz eher als September-Sause mit Musik und Weihnachtsbeleuchtung in den Bäumen, Selfies vor dem Wasserfall und Biergartengarnituren – und damit irgendwie als das Gegenteil von Simona Kochs Natur-Utopie. Im Gegensatz zu den letztjährigen „Geheimen Gärten“, wo hauptsächlich in und mit der Natur gezaubert wurde, holten einen hier jedes Verkehrsschild, jeder Pflasterstein, jede Leuchtreklame, jedes parkende Auto überdies schnell in die Realität zurück. Vielleicht hätte man sich einfach auf eins konzentrieren müssen – den Platz oder den Fluss.

Und doch: Knut Weber und sein Team haben eins geschafft mit diesem außergewöhnlichen Downtown-Projekt (ein logistischer Wahnsinn für eine einzige Nacht) – den Blick zu schärfen, Stadt (und Fluss) mit anderen Augen zu sehen, Mut zu Verwandlungen zu haben, kreuz und quer und dabei auch mal groß zu denken. „Ins Offene!“ spiegelt vor allem eine Welt des Möglichen, zeugt von Tollkühnheit, ruft auf zu Visionen. Und das ist – begleitet von mehr als 3000 Besuchern – dann doch ein guter Start in die neue Spielzeit.

Künstlerin Simona Koch, die sich nach ihrer Vernissage beim Kunstverein ebenfalls unter die Besucher mischte, hat die langsame Verwandlung des Theatervorplatzes, die zumindest in Bruchteilen auf ihrer Fotomontage beruht, übrigens mit der Kamera begleitet – vom Rollrasen bis zum Wasserfall. Dieser Film wird nach Fertigstellung in ihrer Ausstellung „Organisms“ in der Theatergalerie zu sehen sein.