Ingolstadt
Georgien mit der Seele suchen

14.08.2014 | Stand 02.12.2020, 22:21 Uhr

Stephan Wackwitz beschreibt im DK-Forum Georgien als ein Land im Aufbruch - Foto: Hauser

Ingolstadt (DK) Wenn der bekannte Essayist Stephan Wackwitz über Georgien schreibt, dann schreibt er auch über sich selbst. Er schildert, wie er dieses Land erlebt, wie er es in einen Zusammenhang bringt mit seinem reichen Bildungsfundus, wie es auf ihn wirkt und an was es ihn erinnert.

So ist Wackwitz’ Buch „Die vergessene Mitte der Welt – Unterwegs zwischen Tiflis, Baku, Eriwan“ nicht nur eine Art Reisebericht, sondern auch ein Ausflug ins eigene Ich. Sozusagen ein Versuch, Georgien mit der Seele zu suchen. Am Mittwochabend stellte der Leiter des Goethe-Instituts in Tiflis das Buch im Rahmen der Reihe „LeseLust“ im Ingolstädter DK-Forum vor und ließ dabei die rund 100 Besucher an seinen Gedankengängen teilhaben. Die Lesung wurde diesmal nicht nur vom DONAUKURIER veranstaltet, sondern auch vom Freundeskreis des Georgischen Kammerorchesters anlässlich der Feierlichkeiten zum 50-jährigen Bestehen des Ensembles.

Wenn Stephan Wackwitz Georgien beobachtet, dann kommen sofort Assoziationen und Erinnerungen hoch. Er betrachtet das Denkmal für den Dichter Schota Rustaweli in Tiflis und die umliegenden Sträßchen und muss sofort an seinen Heimatort Stuttgart denken, aber auch an Bratislava, Nizza, Florenz. Vor allem aber fällt ihm wieder der Kurzfilm „Le ballon Rouge“ aus den 50er Jahren ein, und es wird ihm plötzlich klar, dass die bröckelnden Mauern und bunten Balkonverglasungen, die Putten- und Fruchtgirladenfriese „genauso aussehen wie Paris in den ersten Einstellungen dieses berühmten (…) Filmklassikers“. Diese Beobachtung führt sofort zur zentralen These von Wackwitz’ Buch: Das postsowjetische, oft noch mittelalterlich geprägte Land Georgien steht am Anfang eines höchst optimistischen Aufbruchs in die Moderne – ganz ähnlich wie Frankreich und andere südliche Länder Europas in den 50er und 60er Jahren. So kann Wackwitz ausführlich vom Film über den roten Ballon reflektieren, den er in seiner Jugend liebte, und über diesen Umweg auch Georgien geistig erfassen. Und er kann erahnen, dass das inzwischen deprimierend museal wirkende Paris der Gegenwart Tiflis’ Zukunft sein könnte.

Der durchaus sympathischen Aufbruchsstimmung hin zu westlicher Demokratie und Moderne steht allerdings auch ein fast religiös-fundamentalistisches Beharrungsvermögen gegenüber. Die Neuerungen kamen vielleicht zu schnell, konstatiert Wackwitz. Und er schildert in seinem Buch eine schockierend Begebenheit: Als am Christopher-Street-Day 2013 in Tiflis eine angemeldete Demonstration von Schwulen und Lesben stattfand, wurden die Teilnehmer von Horden fanatisierter Gegendemonstranten, angeführt von Geistlichen der georgischen orthodoxen Kirche, durch die Stadt gejagt. Das Riesenaufgebot an Polizisten war nur mit Mühe in der Lage zu verhindern, dass Menschen erschlagen oder vergewaltigt wurden. Wackwitz war zutiefst irritiert, überlegte zu diesem Zeitpunkt, ob er überhaupt noch an seinem Buch über Georgien weiterschreiben sollte.

Aber er entschied sich anders. Denn er begreift den Wandel, den Georgien in diesen Jahren durchläuft, als eine Art Experiment zur Demokratie – mit offenem Ausgang. Denn Demokratie ist ohnehin niemals etwas, das mit absoluter Sicherheit und für alle Ewigkeit zu erreichen sei.

Am Ende bedankt sich Manfred Schuhmann, der Vorsitzende des Georgier-Freundeskreises, für die Lesung, die für ihn „als Germanisten rein schon vom Stilistischen her ein Genuss“ gewesen sei. Besser kann man den sprachlichen und intellektuellen Reiz dieser Lesung kaum beschreiben.