Ingolstadt
Philosophische Abenteuerreise

Christoph Ransmayr liest am 16. April im Rahmen der LeseLust aus seinem "Atlas eines ängstlichen Mannes"

05.04.2013 | Stand 03.12.2020, 0:18 Uhr

Das Buch nimmt uns mit auf eine Reise um die Welt: Christoph Ransmayrs »Atlas eines ängstlichen Mannes« ist eine überbordende Folge von Reiseimpressionen. Jede der 70 Episoden beginnt mit der Formel »Ich sah« - Foto: Weyrer

Ingolstadt (DK) „Ich sah die Heimat eines Gottes auf 26° 28’ südlicher Breite und 105° 21’ westlicher Länge: eine menschenleere, von Seevögeln umschwärmte Felseninsel weit, weit draußen im Pazifik.“ So hebt er an, der Erzähler, führt uns gleich zu Beginn auf die Osterinsel, eine isoliert gelegene Insel im Südostpazifik, weltbekannt durch die kolossalen Steinstatuen, die „Moai“. Berichtet von den Rapa Nui, die von ihren eigenen steinernen Geschöpfen versklavt wurden.

Denn die Moai – einst geschaffen als Monumente des Ahnenkults – verkamen zu Macht- und Statussymbolen, wurden im Wettstreit ihrer Erbauer immer gewaltiger. Bis alle Ressourcen und alle Kräfte verbraucht waren und die Clans der Rapa Nui sich gegenseitig vernichteten.

„Fernstes Land“ hat Christoph Ransmayr die erste Erzählung seines „Atlas eines ängstlichen Mannes“ genannt. Am 16. April wird er in Ingolstadt im Rahmen der LeseLust im DK-Forum daraus lesen.

Christoph Ransmayr wurde 1954 in Wels in Oberösterreich geboren und wuchs in Roitham bei Gmunden als Sohn eines Lehrers auf. Er studierte Philosophie und Ethnologie in Wien und arbeitete danach als Kulturredakteur und Autor für verschiedene Zeitschriften („Extrablatt“, „Geo“, „Merian“). Seit 1982 ist er freier Schriftsteller. Große Bekanntheit erlangte er durch Werke wie „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ (1984), „Die letzte Welt“ (1988), „Morbus Kitahara“ (1995), „Der Weg nach Surabaya“ (1997) und „Der fliegende Berg“ (2006). Ransmayr verbindet in seiner Prosa historische Tatsachen mit Fiktion. Seine Werke wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Auszeichnungen gewürdigt – nach dem Hölderlin-, Brecht- und Böll-Preis zuletzt mit dem Neuburger Toller-Preis. Nach Jahren in Irland und auf Reisen – mit Reinhold Messner begab er sich etwa nach Nepal, Nordindien, Indochina, in den Jemen, nach Tibet – lebt Ransmayr nun wieder in Wien.

„Ich sah die Heimat eines Gottes“, „Ich sah ein offenes Grab im Schatten einer turmhohen Araukarie“, „Ich sah Gespenster“, „Ich sah einen kahlgeschorenen Greis an einem Sandstrand“, „Ich sah eine leere Parkbank“, „Ich sah eine samtschwarze, von unzähligen Lichtpunkten tätowierte Finsternis über mir“, „Ich sah eine rote Schwimmweste am Rand eines wogenden Treibgutfeldes im Indischen Ozean“, „Ich sah sieben Brautpaare an einer Straßensperre vor dem Roten Platz in Moskau“, „Ich sah ein Paar zierlicher Lackschuhe“, „Ich sah eine Henkerschlinge“, „Ich sah eine Elefantenherde“, „Ich sah drei flüsternde Mönche“.

„Ich sah“: Alle 70 Kapitel von Christoph Ransmayrs neuem großen, zaubrischen Buch beginnen mit dieser Formel. Das stetig wiederkehrende „Ich sah“ ist aber mehr als bloße Form. Es gibt den Rhythmus vor – hebt an zu einer Melodie. „Ich sah“ – das kündet nicht nur von Zeugenschaft, verspricht nicht nur Enthüllung. „Ich sah“ – das ist Ausdruck von Vision und Erkenntnis gleichermaßen. Und trotz der eingeschränkten, sehr persönlichen Ich-Perspektive wird das „Gesehene“ zu etwas Allgemeingültigem – das den gesamten Erdkreis vermisst, bis zu den Sternen reicht, das in Vergangenheit und Zukunft weist. Das mag etwas mit dem Pathos dieses Sprechens zu tun haben, mit seiner Reinheit, mit seiner Eindringlichkeit, mit seiner Präzision. Christoph Ransmayr nimmt den Leser mit der Virtuosität seiner Sprache gefangen. „Erst durch die Sprache sind wir geworden, was wir sind“, sagt er.

Jeder neue Ort setzt eine neue Geschichte in Gang. Und Stück für Stück fügen sich die 70 Geschichten zu einem erzählten Atlas der Welt. Diese erdichtete Kartografie der Wirklichkeit führt uns von China nach Brasilien, von Island nach Griechenland, von Laos nach Österreich, von Malaysia nach Südafrika, auf leere Straßen, in Lava- und Steinwüsten, an einen Strand, in eine psychiatrische Anstalt. Minutenkurz sind diese Aufenthalte. Und doch ist die Reisegeschwindigkeit eine langsame. Denn am Ende jeder Episode holt der Erzähler Atem, gönnt seinem Mitreisenden, dem Leser, einen Moment des Innehaltens. Auch der Vorsicht.

„Atlas eines ängstlichen Mannes“ hat Christoph Ransmayr sein Werk genannt. Und meint mit diesem „ängstlich“ nicht feige, sondern achtsam, besonnen, demütig. „Unser Leben ist ja nur in seinen verfliegendsten, flüchtigsten Teilen einigermaßen gegenwärtig, sondern besteht vor allem aus dem, was war und was werden könnte. Der ängstliche Mann rechnet mit allem, verfällt dabei aber nicht in Schreckensstarre, bleibt, wo er ist oder verschwindet in einem Versteck, sondern geht, wenn auch manchmal unsicher, wenn auch manchmal bange und zweifelnd, seiner Wege“, erklärt er in einem Interview. Ransmayr schult unser Sehen, schärft unseren Blick – und nimmt uns mit auf eine philosophische Abenteuerreise in eine Welt voller Wunder.

 

Christoph Ransmayr, Atlas eines ängstlichen Mannes, S. Fischer, 464 Seiten, 24,99 Euro.