Ingolstadt
Reine Romantik

Christian Gerhaher und Gerold Huber eröffnen die Jubiläumssaison des Ingolstädter Konzertvereins mit einem grandiosen Liederabend

25.09.2016 | Stand 02.12.2020, 19:16 Uhr

Todesnähe: Christian Gerhaher und Gerold Huber beschwören mit den Lenau-Liedern den Schmerz des Abschieds. - Foto: Schaffer

Ingolstadt (DK) Der Liederzyklus op. 90 von Robert Schumann ist ein tragischer Irrtum. Der Komponist schrieb 1850 die Lieder im Glauben, sein Freund, Nikolaus Lenau, sei verstorben. Er fügte also sechs Gedichte des Dichters zusammen und ließ den Zyklus mit einem "Requiem", einem altkatholischen Gedicht, "als dessen Verfasserin Abälards Geliebte Heloise genannt wird €, ausklingen. Aber Lenau war nicht tot. Er starb erst Wochen später - genau an dem Tag, als der Zyklus in einem Privatkonzert zum ersten Mal aufgeführt wurde - ein zeitliches Zusammentreffen, das Schumann in tiefe Depression stürzte.

In den Liedern geht es fast immer um Abschiednehmen, um erloschene oder hoffnungslose Liebe, um Einsamkeit. Und am Ende, im "Requiem", "um Ruh' von schmerzensreichen Mühen und heißem Liebesglühen".

Christian Gerhaher und sein Klavierpartner Gerold Huber stellen diese düsteren Lieder ins Zentrum ihres Liederabends im Ingolstädter Festsaal. Einem Konzert, in dem ausschließlich zutiefst romantisches Liedgut erklingt, komponiert von Schumann und Antonin Dvorak, und das geradezu ins Zentrum des romantischen Lebensgefühls vordringt. Dieses aus heutiger Sicht ebenso seltsame wie faszinierende, fast exhibitionistisch-wohlige Wühlen in den dunklen Abgründen der Psyche verbunden mit einer emotional aufgeladenen Religiosität.

In den Lenau-Liedern scheint alles Hoffen, alles Wünschen, ja alle Lebensenergie bereits von Depression überschattet zu sein. Da ist nur selten die Kraft noch vorhanden für große Ausbrüche. Und auch da, wo scheinbar Heiterkeit und Alltäglichkeit herrschten, sind sie auf den zweiten Blick doch von Todesnähe angekränkelt. Wie etwa zur Eröffnung das "Lied eines Schmiedes", in dem die Schläge des Handwerkers in der Klavierbegleitung in volkstümlichem Frohsinn zu hören sind. Aber Gerhaher singt hintergründig. In der letzten Strophe wird er bedeutungsvoll leiser, als ob er den transzendenten Charakter hervorkehren will. Denn der Schmied ist ein Meister des Todes, das Ross bringt den Reiter "dem Himmel zu". Am erschütterndsten ist vielleicht das letzte Lenau-Lied, "Der schwere Abend". Liebende nehmen vor düsteren Wolken Abschied in tiefster Betrübnis. Stockend will sich kaum eine Melodie entwickeln, das Klavier holpert von Akkord zu Akkord, bis das lyrische Ich nur noch den Tod herbeiwünscht. Ger-haher singt pianissimo, verstummt geradezu vor Schmerz, aber das Klavier im Nachspiel bäumt sich auf, schreit den Abschiedsschmerz heraus.

Gerhahers und Hubers Interpretation könnte anrührender und bewegender kaum sein, nicht nur weil sie technisch so meisterhaft vorgehen. Denn Gerhaher kontrolliert seinen Bariton bis in die feinste Schwingung seines Vibratos perfekt. Seine Stimme ist im delikatesten Pianissimo noch füllig und tragend und im Fortissimo furchterregend, von metallischer Wucht. Und die höheren Lagen haben einen souveränen Glanz, ein Funkeln, wie wir es sonst nur bei Dietrich Fischer-Dieskau kannten. Aber mehr noch als dieser Jahrhundertsänger, ist bei Gerhaher wirklich jedes Wort zu verstehen. Man könnte fast denken, Gerhaher begreift den Liedvortrag in erster Linie als Rezitation von Lyrik und erst in zweiter Linie als musikalische Interpretation.

Zu welchen ungeheuren Dimensionen der Emotionen und des Klanges dieser ungewöhnlich kluge Sänger fähig ist, wird in den extrovertierteren "Drei Gesängen op. 83" und mehr noch in den "Zwölf Gedichten op. 35" von Schumann deutlich. In "Lust der Sturmnacht" (nach Justinus Kerner) erklingt (zum ersten Mal an diesem Abend) ein rundheraus optimistisches Werk. Und Gerhaher verausgabt sich, zeigt die ganze manische Euphorie, zu der Schumann auch fähig ist, brüllt Lebensfreude heraus. Aber dabei bleibt es nicht. Düstere Schatten tauchen auf, hoffnungslose Verliebtheit, Todessehnsucht. In "Stille Liebe" hat Schumann eine Art Anti-Lied geschrieben, eine Musik, die sich nicht entfalten kann, weil das verliebte lyrische Ich keine Worte findet. Gerhaher singt das zerrissen, wehmütig.

Nichts ist so schmerzhaft wie "Stille Tränen". Gerhaher und Huber loten in diesen wenigen Tönen atemberaubend zwischen leisestem Piano und Fortissimo schier unglaubliche Gefühlsregionen aus: von unterdrücktem Zorn in der Verliebtheit bis zur Verzweiflung in der Erinnerung.

Romantisch und doch ganz anders als die Schumann-Lieder muten Antonin Dvoraks "Biblische Lieder" an. Vor allem Gerhaher, der die Lieder im tschechischen Original vorträgt, scheint in einem anderen Register zu singen. Nicht der intime, kammermusikalische Tonfall dominiert, sondern ein fast opernhaft theatralischer. Und auch Huber am Flügel agiert plastischer, vollgriffiger. Überhaupt bieten die Dvorak-Lieder dem Pianisten mehr als Schumann: der Klaviersatz scheint unzählige Instrumente zu imitieren, man hört Harfen, grandiose Bläsereinsätze, samtweiche Streicher, folkloristisches Trillern. Große, überkochende Gefühle auch hier, immer vom Hauch des Unendlichen umwoben. Erfüllte, erschütternde, reine Romantik.