Ingolstadt
"Ich bin ein Glückspilz"

14.04.2016 | Stand 02.12.2020, 19:57 Uhr

"Die Reise nach Petuschki" ist Peter Greifs letzte Produktion am Stadttheater Ingolstadt. - Foto: Olah

Ingolstadt (DK) Mit Bert Brechts "Der gute Mensch von Sezuan" stellte er sich 1995 dem Ingolstädter Theaterpublikum vor. Mit dem gleichen Stück wird er in dieser Saison seine Theaterlaufbahn beenden. Zufall? "Zufall", bestätigt Peter Greif und lacht. So wie alles Zufall war in seinem Leben.

Oder "Schicksalsfügung", wie er es nennt. Nach 36 Jahren im Schauspielerberuf, von denen er 21 Jahre am Stadttheater Ingolstadt verbracht hat, geht er am Ende der Spielzeit in den Ruhestand. Und er verabschiedet sich mit einem Coup: Mit Wenedikt Jerofejews Kultroman "Die Reise nach Petuschki", wo er dem Säufer Wenja Gestalt verleiht. Und das Publikum in seine Welt aus Rausch und Alpträumen hineinzieht. Eine dieser hoch komischen und tief tragischen, abgründigen Figuren, die Peter Greif so eindrucksvoll zu spielen vermag. "Die Verletzten, Verwundeten, Schrägen, Zukurzgekommenen" mochte er schon immer gern.

Eigentlich wollte Peter Greif Journalist werden. "Investigativer Journalist", betont er. Schon zu Schulzeiten schrieb er für den Lokalteil der Zeitung in Kaufbeuren. Er studierte in München Politikwissenschaft, Volkswirtschaft und Geschichte. Doch mit 25 Jahren hatte er eine Krise: Freundin weg, Studium fragwürdig. Er wollte einen völligen Neuanfang. Antiquitätenhändler? Biobauer? Lastwagenfahrer? Hauptsache raus aus dem Studienbetrieb. Er zeichnete Akt an der Kunstakademie. Und belegte an der Volkshochschule einen Improvisationskurs. Arbeitete als Sprecher beim Puppentheater. Und nahm privaten Schauspielunterricht. Später wirkte er in András Fricsay Theatergruppe "Die Zauberflöte" mit. Bevor er - wieder durch Zufall - ans Münchner Kindertheater geriet, wo er für eine monatliche Gage von 900 Mark ein Jahr blieb. "Ich war versorgt und hatte einen Vertrag."

Peter Greif sitzt im Skulpturengarten hinter dem Museum für Konkrete Kunst, auf Marcello Morandinis Werk, und erzählt von der denkwürdigen Begegnung mit dem Chef der ZBF (Zentrale Bühnen-, Fernseh- und Filmvermittlung). Nein, er erzählt nicht. Er spielt. Das Lispeln. Den Furor. Den Ausnahmezustand. Den Beginn seiner Schauspielerlaufbahn. Das erste richtige Engagement am Landestheater Schwaben in Memmingen von 1979 bis 1981 ("eine Knochenmühle, aber spannend"). Nach einem kurzen Abstecher ans Jugendtheater Stuttgart ging er 1982 nach Bern, wo er sieben Jahre blieb und Wolfram Krempel kennenlernte, damals Regisseur am (Ost)Berliner Maxim-Gorki-Theater, der dort als Gast inszenierte. 1989 wechselte er nach Augsburg, wo er Krempel als Gastregisseur wiedertraf. Und als in Ingolstadt ein Nachfolger für Ernst Seiltgen gesucht wurde, gab Greif Krempel einen Tipp. Tatsächlich wurde Krempel 1995 Intendant des Stadttheaters - und holte Greif nach Ingolstadt.

Obwohl hier engagiert, blieb Peter Greif weiter in Augsburg wohnen. Die Kinder gingen auf die Waldorfschule, seine Frau war dort Lehrerin - und eine solche Schule gab es in Ingolstadt nun mal nicht.

Aber halt, kurz zurück zu Augsburg. Hier fand schließlich Peter Greifs größter Theater-Skandal statt, der ihn samt Foto auf die Titelseite der "Bild"-Zeitung brachte. Und das kam so:

Auf dem Spielplan stand Peter Turrinis Stück "Die Minderleister", in deren Zentrum der arbeitslose Stahlarbeiter Hans steht. Als auch seine Frau Anna ihre Arbeit verliert und die Angst vor Armut immer größer wird, versucht sie sich als Pornodarstellerin. Und diese Szene - ein Hinterzimmerdreh - mit heruntergelassener Hose wurde zum Eklat. "Wir haben mit Gegenlicht gespielt, man sah nur die Silhouette - und ich war auch gar nicht nackt", erzählt Peter Greif. "Aber in der Premiere haben die Leute gebrüllt und sind türenschlagend raus." Die "Bild" versuchte zu der Zeit gerade, in Augsburg Fuß zu fassen und hatte prompt ihren Aufmacher: "Skandal im Theater" samt Foto von Peter Greif und Kollegin in anstößiger Pose. Er lacht. "Nach den Schlagzeilen war das Theater plötzlich immer voll."

Seit 1995 also Ingolstadt. Unter drei Intendanten: Krempel, Rein, Weber. Dass er ein bisschen auch immer der Quotenbayer war, stört ihn nicht. "Ich mache ja auch andere Sachen", sagt er, lächelt verschmitzt und holt aus zu einem kleinen sprachgeschichtlichen Exkurs über Schwaben und Bayern. Peter Greif konstatiert sich selbst "ein Universalinteresse". Und seine Kenntnisse sind oft gefragt. Woher das kommt? "Wenn man Journalist werden will, hat man ja eine bestimmte Halbbildung, die man immer ausbauen sollte." Er liest einfach viel. Und hat das Vorlesen zur Kunstform erhoben. Nicht erst in Ingolstadt mit den "Grimmigen Märchen", der "Heiligen Nacht" oder jetzt mit der "Reise nach Petuschki". Für den Schweizer Rundfunk las er Ende der 80er-Jahre Oskar Maria Grafs Roman "Unruhe um einen Friedfertigen" ein. Für die 30-teilige Radioserie musste er den Roman allerdings erst mal um die Hälfte zusammenstreichen. "Meine Urlaubsbeschäftigung", erinnert er sich. Und gar nicht so einfach - ohne eine der Figuren zu verlieren. Rundfunk- und Fernsehauftritte blieben die Ausnahme. "Wenn man am Theater ist, kann man wenig nebenbei machen", sagt Greif. 36 Jahre lang war er ununterbrochen engagiert. "Da muss man schon von einem Sechser im Lotto sprechen. Das haben die allerwenigsten. Und das hat eine gewisse Dankbarkeit zur Folge. Klar kann man bedauern, was man nicht gespielt hat - den Woyzeck zum Beispiel. Ich habe auch mal überlegt, ob ich aufhören soll, das macht man immer wieder. Aber letztendlich ist die Schauspielerei einer der schönsten Berufe. Ich bin ein Glückspilz."

Trotzdem freut sich Peter Greif auf den Ruhestand. Weil der ständige Druck dann weg ist. Und natürlich, weil er "endlich mal die Bücher lesen kann, die ich schon seit 20 Jahren lesen will". Die sich zu Hause bis unters Dach stapeln.

Wegen zu vielen Geschwindigkeitsübertretungen zwischen Augsburg und Ingolstadt war ihm mal ein Jahr der Führerschein entzogen worden. Was zur Folge hatte, dass er in dieser Zeit mit dem Zug fahren musste und lesen konnte - Dostojewski, Tolstoi. "Die Russen habe ich durch", sagt er und lacht. Aktuell interessieren ihn Bücher über die Ursprünge der Religion. Schließlich steht noch eine Reise nach Israel an. Und irgendwann nach St. Petersburg. Es gibt noch viele Projekte. Außerdem soll "Die Reise nach Petuschki" in der nächsten Saison wiederaufgenommen werden. Hoffentlich. Denn es ist nicht nur ein anrührender, trunken-bizarrer Abend über die Abgründe des menschlichen Daseins. Die spektakuläre Inszenierung feiert auch den Schauspieler Peter Greif selbst.

 

Weitere Termine der "Reise nach Petuschki" im Studio: 6., 7., 10., 12. und 14. Mai, jeweils um 20 Uhr. Karten unter Telefon (08 41) 305 47 200.