Ingolstadt
Fulminante Familienfeier

02.02.2014 | Stand 01.02.2017, 14:43 Uhr

Lesung der Münchner Kammerspiele: Marieluise Fleißer spielte mit ihren Stücken eine prominente Rolle in der Entwicklung von Martin Sperr, Rainer Werner Fassbinder und Franz Xaver Kroetz - Foto: Rössle

Ingolstadt (DK) Über Franz Xaver Kroetz schrieb Marieluise Fleißer: „Es gibt liebste Söhne. Er hat am tiefsten gegraben. Und er hat vielleicht am meisten gefunden.“ Ausgerechnet diesen Lieblingssohn wird man nicht auf der Leinwand sehen, aber das ist auch schon das einzige winzige Manko.

Denn sonst ist alles da in dieser wunderbar prallen szenischen Vorlesung über „Marieluise Fleißer und all ihre Söhne“: Die Ingolstädter Autorin selbst in Film und Wort, die „Söhne“ Martin Sperr, Rainer Werner Fassbinder und eben Kroetz in Reden, Erinnerungen, Statements. Und nicht zuletzt die wilde Aufbruchszeit der 60er/70er Jahre, als die Fleißer ihren Söhnen und die Söhne der Fleißer zu erstem, zu erneutem Ruhm verhalfen.

Die Münchner Kammerspiele gastierten anlässlich des 40. Todestages Fleißers im Kleinen Haus des Theaters mit der so lehrreichen wie spannenden Produktion, die im Münchner Stammhaus 2013 als Zusatz zur fulminanten „Fegefeuer in Ingolstadt“-Inszenierung entstand. Die Dramaturgen Jeroen Versteele und Matthias Günther haben die Lesung als dichte Collage aus biografischen Informationen, literarischen Erinnerungen, szenisch gelesenen Stück-Sequenzen und Filmeinspielungen konzipiert – man lernt viel dabei und wird doch nie belehrt, kann berührt sein, staunen und auch lachen.

Da treffen sich etwa die Reminiszenzen des 2013 verstorbenen großen Schauspielers Walter Schmidinger an die skandalträchtige Premiere von Kroetz’ „Heimarbeit“ 1971 im Werkraum der Kammerspiele, in der er und Ruth Drexel die Hautrollen spielten, mit den lakonischen Erinnerungen der Fleißer, die mit ihrem Neffen Klaus Gültig eben diese Vorstellung besuchte: Skandierende Rechtsradikalenchöre vor dem Theater, mit Fäkalien beschmierte Foyers, Bombendrohungen und mehrmalige Vorstellungsunterbrechungen durch die Polizei zeichnen in beider Worte ein packendes Bild von der Sprengkraft des Theaters jener Zeit. Da begegnen sich die ältliche Fleißer (wie attraktiv sie ist, wenn sie lacht!) und der junge, mit Tangabadehose angetane Martin Sperr vor der Kamera in Sperrs Garten und kommunizieren skurrilerweise über Hausgeburten – nur wenig später wird Sperr eine Gehirnblutung erleiden, von der er sich nie ganz erholt. Da analysiert Kroetz zum 70. Geburtstag Fleißers so glasklar ihre literarische Sprache und deren Qualität, wie man es selten hörte.

Es zeigen Ausschnitte aus Sperrs „Jagdszenen aus Niederbayern“ und Fassbinders „Katzelmacher“ (beide 1968) die Fortsetzung des grandiosen sozialkritischen Volkstheaters, das Marieluise Fleißer schrieb – sein dem Film zugrunde liegendes Stück widmete Fassbinder denn auch ihr. Und es demonstrieren, das und vor allem, szenische Lesestücke aus den „Pionieren in Ingolstadt“, wie Fleißer mit wenigen verdichteten Sätzen das ganze Dilemma zwischen Mann und Frau, Sprache und Sprachlosigkeit, Herr und Knecht für immer gültig zu benennen wusste.

Sieben Ensemblemitglieder, die Protagonisten auch der „Fegefeuer“-Inszenierung, sind es, die brillieren: Marc Benjamin, Walter Hess, Christian Löber, Anna Maria Sturm, Cigdem Teke und Edmund Telgenkämper werden wahlweise zu (Auto-)Biografen, zu Korl und Berta aus den „Pionieren“ oder zu Len und Pam aus Edward Bonds „Gerettet“, das Martin Sperr 1967 ins Bayerische übersetzte, mit hörbarem Fleißer-Duktus.

Nur eine hat nur eine Rolle: Heidy Forster spricht innig und wie von fern Marieluise Fleißer, jene fast in Vergessenheit geratene Autorin, die 1968 halb gezwungen, halb aus Überzeugung dem unbekannten Rainer Werner Fassbinder ihre „Pioniere“ zur Bearbeitung und Neuaufführung am Münchner Büchner-Theater überließ. Da hat sie längst begonnen: die Geschichte der Fleißer und all ihrer Söhne, die diese Lesung so wunderbar vermittelt.