Ingolstadt
Die große Chance aufs Engagement

Die besten Opernnachwuchskünstler aus aller Herren Länder sangen in Ingolstadt um ihre Zukunft

03.06.2012 | Stand 03.12.2020, 1:25 Uhr

Ingolstadt (DK) Herr Ortiz hat das Hemd schief, und Herr Sevastyanov auch. Da nutzt es nichts, dass der eine, bereits preisgekrönt, schon ein Engagement an der Staatsoper Stuttgart hatte, und der andere 2011 am Internationalen Opernstudio Zürich als hochbegabter Sänger aufgenommen wurde. So etwas geht nicht! Genauso wenig wie die nuscheligen „Äähs“, die leider einige der insgesamt neun Kombattanten in die Ansage ihres Namens und ihrer Arientitel streuen. „Nochmal bitte“, sagt Inge Wiesner also. Und dann zufrieden: „Gut!“

Mit Argusaugen und Luchs-ohren verfolgt die Vertreterin der Münchner Abteilung der bundesweiten ZAV-Künstlervermittlung im Zuschauerraum des Großen Hauses gerade den „Check-up“, die kurze Stell- und Einsingprobe ihrer Schützlinge, um alles auszumerzen, was potenzielle Arbeitgeber eventuell irritieren könnte. In knapp einer Stunde werden die neun jungen Leute, ausgewählt aus den „100 besten Absolventinnen und Absolventen im Fach Operngesang aus ganz Deutschland“ vor einem Publikum aus Intendanten, Regisseuren, Dirigenten und musikalischen Leitern aus allen deutschsprachigen Theatern singen. Denn die sind da, wenn die ZAV, die Zentrale Auslands- und Fachvermittlung der Bundesagentur für Arbeit, zum jährlichen „Nachwuchsvorsingen“ lädt – und engagieren schon mal ein Jungtalent vom Fleck weg ins Festengagement.

Das Vorsingen, immer gekoppelt an die Jahrestagung des Deutschen Bühnenverbandes und deshalb diesmal in Ingolstadt, hat Tradition und ist mit 54 Jahren etwa doppelt so alt wie die, die diese Tradition bedienen. „Wir haben mit 27 Jahren den bisher geringsten Altersdurchschnitt“, sagt Ansgar Bovet, Teamleiter der ZAV-Künstlervermittlung. Gerade 25 geworden ist die jüngste Auserwählte, die serbische Sopranistin Tamara Banjesevic, deren Stimme später als süßer Schmelz ins Herz gehen wird, der turkmenische Bass Evgeny Sevastyanov mit knapp 29 Jahren der Älteste. Er dürfte trotzdem, und selbst wenn sein Hemd schief bliebe, die größte Aussicht auf Sofortvermittlung haben. An Bass-Stimmen herrscht im Opernbereich „absoluter Mangel. Bässe werden uns aus den Händen gerissen!“, erzählt Axel Mendrok, der das diesjährige Vorsingen betreut. Und der auch mit seinen Kollegen die Auswahl aus den hundert vorgeschlagenen Musikhochschul-Absolventen traf. „Wir schauen natürlich einerseits, dass von jedem Fach, über den Sopran bis zum Bass, etwas dabei ist“, sagt Mendrok. „Und dann suchen wir die Besten.“

Was einfacher klingt, als es ist: Insgesamt viereinhalb Tage dauerte die Vorauswahl in München, ein musikalisches Mammutprojekt, das von seinen Organisatoren „Konzentration und ein gutes Gedächtnis“ erfordere. Und Fachkompetenz: Wie Mendrok, der als Opernsänger jahrelang unter Gerard Mortier an der Staatsoper Brüssel sang, kommen praktisch alle ZAV-Agenten aus dem künstlerischen Bereich. Den „Ingolstädter Opernstar“, wie eine Internetzeitung titelte, suchen sie trotzdem oder gerade deswegen nicht. Hier geht es nicht um Show und Wettbewerb; einfach zusammenbringen wolle die Bundesagentur begabte Newcomer und Theaterverantwortliche, sagt Mendrok, dessen Vermittlungsquote immerhin „langfristig 100 Prozent“ beträgt.

Ähnlich realistisch sehen das die Teilnehmer selbst. „Es ist so: Ich habe kein Einkommen, wenn ich kein Engagement habe“, sagt die 26-jährige Sopranistin Stepanka Pucalkova, die im Juni im Salzburger Mozarteum mit dem Master abschließt. „Und da wünsche ich mir einfach, dass ein Theater auf mich zukommt. Traumbühne? Muss zunächst nicht sein.“ Auch der Amerikaner Marc von Alsdale, derzeit im Opernstudio Strasbourg engagiert, sieht die Sache pragmatisch. Natürlich sei es eine Ehre, zum Vorsingen eingeladen worden zu sein, andererseits aber auch einfach eine gute Gelegenheit, vor vielen Häusern gleichzeitig zu singen. „Man spart sich das Reisen, man spart auch Geld“, sagt der smarte 28-Jährige und lacht. Beide, die mal auf deutsch, mal auf englisch, mal auf französisch im Theaterfoyer vor dem Einsingen miteinander plaudern, sind übrigens „überhaupt nicht aufgeregt. Das ist lockerer, als wenn man sich zum Vorsingen konkret irgendwo bewirbt.“

„Sie sind jetzt doch alle ganz schrecklich aufgeregt“, sagt ZVA-Agentin Inge Wiesner zwei Stunden später. Es ist kurz vor dem Anfangsgong; ins Große Haus strömen allmählich die Theaterleute aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Unter ihnen auch der Brite Michael Millard, Dirigent am Staatstheater Mainz. Am Tag zuvor war er bei einer Aufführung der Opernakademie in München, nun schaut er sich beim Vorsingen um. „Wir suchen immer neue Leute!“, sagt Millard.

Und dann singen sie wirklich. Einer nach dem anderen, jeder zwei Arien, jeder mit neun Minuten Zeit zu überzeugen. Herr Ortiz hat das Hemd gerade, und Herr Sevastyanov auch. Und die Töne sitzen sowieso.