Ingolstadt
In unwirtlichen Zeiten

Helene Bukowski und Christian Schulteisz bei den Literaturtagen Ingolstadt

13.06.2021 | Stand 23.09.2023, 19:09 Uhr
Menschen in Extremsituationen: Lesung mit Helene Bukowski und Christian Schulteisz in der Kulturoasis. −Foto: Weinretter

Ingolstadt - "Mut für Themen, eine eigene Sprache und Talent", bescheinigte Iris Wolff, Kuratorin ihres Fleißer-Preisträger-Festivals innerhalb der 28. Ingolstädter Literaturtage, der 28-jährigen Helene Bukowski und dem 36 Jahre alten Christian Schulteisz.

Und Moderatorin Julia Knapp, die für den Samstagabend im Innenhof der Kulturoasis aus Zürich angereist war, stellte im Verlauf einer guten Stunde im Gespräch mit beiden deren unterschiedliches Herangehen an Themen und ihren Anspruch und Umgang an und mit Literatur vor. Und sie ließ beiden Raum, aus ihren - wie sich dabei herausstellte: zu Recht - hochgelobten (Roman-)Debüts zu lesen.

So unterschiedlich die Romane auch sind, so hinterfragen beide, wie Menschen in Krisen- und Extremsituationen reagieren, wie es mit ihrer persönlichen Freiheit bestellt ist, wie Menschen mit Landschaft, Natur und ihrem Umfeld umgehen.

Helene Bukowski erzählt in "Milchzähne" von Skalpe und ihrer Mutter Edith, die in einer weiten Landschaft, einer Steppe, unter sengender Sonne leben. Zwar liegt ihr Gehöft einsam, doch gehören sie zu einer Community von weiteren Einödhöfen. Zuvor war diese Landschaft grün, kühl, nebelig, fruchtbar. Durch ein Ereignis - man erfährt nicht welches - hat sich das Wetter verschoben. Um das zu halten, was man noch hat, schottet man sich ab gegenüber Fremden, jenen von jenseits des Flusses, dem Land am Meer. Dann geschieht es: Skalde findet draußen ein Mädchen, rothaarig, nicht aus dieser Gemeinschaft stammend. Gegen alle Vorschriften nimmt sie es mit zu ihrer Mutter, die zwar auch sagt "Das Balg muss weg", aber das Mädchen akzeptiert, am Ende eine bessere Beziehung zu diesem aufbaut, als jene zu Skalde, ihrer Tochter. Vieles bleibt im Ungewissen in dieser Dystopie. Doch nur so sei sie den verhandelten Themen Klimawandel, Angst vor Überfremdung, Heimat, Trauer und Traumata näher gekommen. "Ich interessiere mich für die Zwischenwelten, für das leicht Flirrende", erzählte Bukowski. Dabei habe sie aber für Details wie das Schlachten von Kaninchen - wichtig für das Überleben ihrer Romanfiguren - genau recherchiert.

Gut zu verorten ist Christian Schulteisz' Roman "Wense". Im Mittelpunkt steht der Schriftsteller, Komponist und Übersetzer Jürgen von der Wense (1894- 1966) und das Jahr 1943, in dem das "dilettierende Universalgenie" erstmals "richtig arbeiten" musste: Kriegsersatzdienst als Abteilungsleiter in Werkstätten des Siemens-Konzerns in Göttingen. In der Freizeit wanderte Wense weiter (am Ende seines Lebens sollen es rund 40000 Kilometer gewesen sein). Während Bukowski die Landschaft aus Versatzstücken verschiedener realer Landschaften erschafft, ist die durchwanderte Landschaft in Schulteisz' Roman benannt, wird aber nicht beschrieben. Dafür umso ausführlicher das, was Wense darin entdecken, auffinden will.

Denn er hat alles bereits im Kopf: "Jetzt schickt er sein Wissen als Spürhund voraus und sein Wissen zerrt ihn hinter sich her". Anfangs habe er Sätze Wenses aus dessen Nachlass eingebaut. "Am Ende habe ich sie gestrichen. " Zu dieser Zeit habe er Georg Büchners "Lenz" gelesen. "Das war für mich Anlass, mich vollends auf die Figur zu konzentrieren, darauf, wie dieser Freigeist, der oft behauptet hat, etwas Neues entdeckt zu haben, ohne rechte Beweise dafür zu liefern, in unfreien Zeiten existieren konnte", erzählte Schulteisz und las eine im Sinne der Wense'schen Gedanken-Flut gehaltene, von ihm, Schulteisz geschriebenen Abhandlung zum Stab vor: mit dem man "weiter reicht, in der Tiefe tasten kann, ? und die ganze Welt vermessen?" Vielleicht waren die Wense-Experten nicht so begeistert von dessen Umgang mit der historischen Figur. Doch wer Sprache liebt, für den gehört auch dieser Roman zur empfehlenswerten Lektüre.

DK


Die nächsten Termine: 15. Juni, 19 Uhr, Literatur-Update "Den Tod schreiben" im Deutschen Medizinhistorischen Museums und 16. Juni, 20 Uhr, Raphaela Edelbauer "Dave" Innenhof der Harderbastei.

Barbara Fröhlich