Ingolstadt
In den Mühlen der Bürokratie

Großer Applaus für das Ingolstädter Freilichttheater "Der Hauptmann von Köpenick" unter der Regie von Andreas von Studnitz

30.06.2019 | Stand 23.09.2023, 7:35 Uhr
Wilhelm Voigt (Olaf Danner) wäre gern ein rechtschaffener Untertan, doch Verwaltung und Justiz machen ihm das Leben schwer. −Foto: Klenk

Ingolstadt (DK) Ohne Arbeit keine Papiere. Ohne Papiere keine Arbeit. Wilhelm Voigt steckt in einem Teufelskreis. Gerade ist er aus dem Gefängnis entlassen worden, in dem er wegen eines kleinen Betrugsdelikts 15 Jahre abbrummen musste, und will nichts anderes, als sich eine neue Existenz als Schuster aufzubauen.

Aber wer einmal in die Mühlen von Justiz und Bürokratie geraten ist, für den gibt es kaum Entrinnen - und oft den Rückfall in die hart bestrafte Kleinkriminalität. Um an seine Personalakten zu gelangen, bricht Voigt ins Potsdamer Polizeirevier ein, was ihn erneut hinter Gitter bringt - für volle zehn Jahre. Als er wieder freikommt, hat er längst den Anschluss ans Leben verloren. Für kurze Zeit findet er Unterschlupf bei seiner Schwester. Dann kommt die Ausweisung - aus der eigenen Heimat. Doch Voigt wehrt sich: Er nimmt mit einer ertrödelten Uniform das Köpenicker Rathaus im Handstreich ein, verhaftet den Bürgermeister und verschwindet mit der Stadtkasse.

Carl Zuckmayer (1896-1977) erkannte in der wilhelminischen Realsatire von 1906 einen perfekten Komödienstoff und entlarvte mit seinem "deutschen Märchen" die Obrigkeitsgläubigkeit seiner Zeitgenossen. Das Stadttheater Ingolstadt hat das Stück für seine diesjährige Freilichtaufführung ausgewählt. Unter der Regie von Andreas von Studnitz feierte es am Freitagabend im Turm Baur umjubelte Premiere.

Dabei scheint sich das Stück auf den ersten Blick gar nicht für vergnügliche Open-Air-Unterhaltung zu eignen. Ist dieser Wilhelm Voigt doch ein Ausgestoßener, ein Heimatloser im eigenen Land, einer, der vergeblich auf eine zweite Chance hofft, aber am System zugrunde geht. Der Verkleidungscoup, mit dem er die starren Strukturen des Staatsapparats, die Untertanenmentalität aus blindem Gehorsam und Ehrfurcht vor der Uniform, die Leichtgläubigkeit der Masse demaskiert, nimmt schließlich nur einen Bruchteil des Stückes ein. Zumal in der Ingolstädter Fassung. Denn wenn Olaf Danner in der Titelrolle in der Hauptmannsuniform, auf die er hier eher zufällig stößt, das Köpenicker Rathaus übernimmt, ist das Stück schon fast vorbei. Regisseur von Studnitz an den Schluss gestrichen - das Medienecho, das Lachen des Kaisers, Voigts Selbstanzeige.

Trotzdem funktioniert dieser "Hauptmann von Köpenick" hervorragend - auch ohne die üblichen Freilicht-Spektakel-Zutaten wie Feuerwerk, Livemusik, große Statisterie, Pferdekutschen. Andreas von Studnitz hat Carl Zuckmayers Tragikomödie radikal entschlackt, Figuren und Szenen so klug wie kühn gestrichen und die Geschichte auf ihren Kern reduziert. Neben der politischen Dimension - Gesetz vor Recht? -, ist es bei ihm vor allem ein Stück über das Menschsein.

Trotzdem gibt es auch viel zu lachen. Zum einen steckt in dem Berlinerischen der Vorlage einfach viel Wortwitz, zum anderen paart sich Anarchie liebend gern mit Komik, zum dritten steht dem Regisseur ein Ensemble zur Verfügung, das sich wieder einmal in Höchstform präsentiert. Nur neun Schauspieler stemmen in diesem Jahr das Freilicht. Und außer Olaf Danner in der Titelrolle haben alle mehrere Rollen zu bewältigen. Auch das sorgt für jede Menge Lacher. Der Regisseur setzt den Aspekt des Verkleidens, des Mehr-Schein-als-Seins, des Rollenspiels in vielfacher Weise um. Beispielsweise durch gegengeschlechtliche Besetzungspraxis (Ralf Lichtenberg entzückt als laszive Kneipenwirtin, Teresa Trauth als schlotteriger Schutzmann). Oder durch Feinjustierung bei Doppelrollen. Wenn Sascha Römisch als Garde-Hauptmann von Schlettow zu Beginn bei Schneider Wormser einen Uniformrock anprobiert und später (von Schlettow musste nach einem Skandal den Dienst quittieren) in der Rolle Obermüllers vom perfekten Sitz derselben Uniform schwärmt, ist das natürlich ziemlich komisch. Überhaupt stechen die Kostüme von Mona Hapke durch eigenen Witz optisch hervor. Zitieren sie doch die eigentlich gediegene wilhelminische Mode in schillernder Farbgebung. Tragen die Herren keine doppelreihigen Uniformröcke in Preußischblau, dann wenigstens Gehrock, Weste, Vatermörder im wildesten märchenhaften Grün, Gelb, Lila und grenzen sich damit weithin sichtbar von der Unterschicht ab. Denn die duckt sich in gedeckten oder abgetragenen Braun-Grau-Tönen.

Der Clou aber ist das Bühnenbild. Denn Andreas von Studnitz hat die sprichwörtliche schiefe Bahn in den Innenhof des Turm Baurs gebaut. Eine lange, uniformblaue Zunge erstreckt sich vom oberen Geschoss zum Boden und schafft so drei verschiedene Spielebenen. Der Hof unten gehört Wilhelm Voigt und den Seinen, im mittleren Bereich befindet sich wahlweise das Atelier des Schneiders oder die Wohnung des Bürgermeisters und ganz oben ist Platz für das Jenseits, aus dem das tote Mädchen grüßt. Eine Bretterverschalung an den Seiten bietet verschiedene Zugänge und die Schräge selbst eine veritable Rutschbahn. Von oben nach unten geht es mitunter rasant. Aber den Weg hinauf schafft keiner. Den Rest überlässt der Regisseur der Wirkung des klassizistischen Festungsbaus - und möbliert nur wenig. Ein gutes Dutzend Stühle lässt sich zur Kneipe oder zur Wohnung umnutzen, dazu ein Bett für das sterbende Lieschen - das genügt. Regisseur von Studnitz setzt vor allem auf die Magie des Theaterspiels und das Können seiner Truppe. Und die agiert hinreißend.

Beeindruckend zeigt Olaf Danner diesen Wilhelm Voigt als einen, der nicht zurechtkommt in dieser Welt. Der leidet an der Ungerechtigkeit und verzweifelt an seiner Sehnsucht nach Normalität. Kein tumber Mitläufer, sondern einer, der sich Gedanken macht. Und doch: ein Niemand, ein Abgrund. Einer mit tiefen Blicken und beredtem Schweigen. Einer dieser Heimatlosen, von denen es viele gibt in der heutigen Zeit. Aber eben ein stiller Dulder und kein Revolutionär.

Mit wunderbaren Figurenfindungen erschaffen die anderen acht Darsteller seine Gegenwelt: Sascha Römisch, Ralf Lichtenberg, Peter Reisser, Maik Rogge, Ulrich Kielhorn, Mira Fajfer, Péter Polgár und Teresa Trauth setzen - jeder auf eigene Weise - komödiantische Glanzlichter. Haben Ecken und Kanten und vor allem Format, sind Wichtigtuer, Duckmäuser oder Wesen aus dem Wunderland und oft kaum wiederzuerkennen. Sie sind komisch, anrührend, tragisch, desolat, liebenswürdig, devot, dünkelhaft. Ihr Spiel ist hochkonzentriert und präzise, dabei leichtfüßig, ideenreich, originell - wie alles, an dieser Inszenierung. Großer Applaus!

ZUM STÜCK
Theater: Turm Baur Ingolstadt
Regie: Andreas von Studnitz
Ausstattung: Mona Hapke
Vorstellungen: Bis 24. Juli, jeweils 20.30 bis 22.40 Uhr
Kartentelefon: (0841) 30547200
Wetterhotline: (0841) 30547299

WILHELM VOIGT - DER "ECHTE" HAUPTMANN VON KÖPENICK

Der „echte“ Friedrich Wilhelm Voigt wurde am 13. Februar 1849 als Sohn eines Schuhmachers in Tilsit geboren. Bereits als Schüler kam er  mit dem Gesetz in Konflikt, später brachten ihn mehrere Diebstähle und Urkundenfälschungen  immer wieder ins Gefängnis. Insgesamt hatte er rund 30 Jahre hinter Gittern verbracht, als er am 12. Februar 1906 – einen Tag vor seinem 57. Geburtstag – wieder einmal frei gelassen wurde. Für den Großraum Berlin wurde ihm ein Aufenthaltsverbot erteilt, an das er sich jedoch nicht hielt.   Bei verschiedenen Trödlern erwarb er   Teile einer Hauptmannsuniform des 1. Preußischen Garderegiments. In dieser Uniform  marschierte er an der Spitze einer Wachmannschaft der preußischen Armee am Nachmittag des 16. Oktober 1906 zackig  zum Rathaus von Köpenick, verhaftete den Bürgermeister und ließ sich die Stadtkasse aushändigen. Erst zehn Tage nach dem Coup wurde er  verhaftet. Ein Berliner Landgericht verurteilte ihn am 1. Dezember zu einer neuen Freiheitsstrafe von vier Jahren, aber Kaiser Wilhelm II. begnadigte ihn. Nach der Haftentlassung im August 1908 begann er sich clever zu vermarkten, etwa mit  Grammophonaufnahmen und Autogrammkarten.  1909  legte er seine Autobiografie vor: „Wie ich Hauptmann von Köpenick wurde.“ Der amerikanische Zirkus Barnum and Bailey organisierte für ihn eine Tournee durch mehrere europäische Städte. Am 3. Januar 1922 starb er schwer gezeichnet von einer Lungenerkrankung und infolge von Krieg und Inflation völlig verarmt in Luxemburg. 

 

Anja Witzke