Ingolstadt
Im literarischen Wohnzimmer der Stadt

Zehn regionale Autoren und ein Stargast lesen aus ihren Werken in der Ingolstädter Neuen Welt

12.05.2019 | Stand 23.09.2023, 6:58 Uhr
Vielseitiges Literaturangebot: Fitnat Ahrens (links) trat mit einem Wopertinger an. Special Guest war der Bestsellerautor Timo Leibig (Mitte). Und Michael von Benkel moderierte den Abend. −Foto: Luff

Ingolstadt (DK) Sie machten die Neue Welt am Freitagabend zum literarischen Wohnzimmer der Stadt: Im Rahmen der 26. Ingolstädter Literaturtage trugen dort elf Schriftsteller unterschiedlichster Couleur auf Einladung des Ingolstädter Autorenkreises aus ihren teils noch unveröffentlichten Werken vor. Dazwischen ertönten die jazzigen und funkigen Klänge der Ingolstädter Band Dr. Eisele und die Besen. Das Publikum war begeistert. Die Veranstaltung ist ein fest etablierter Programmpunkt der Literaturtage. Wann erhält der Literaturfreund schon in derart konzentrierter Form Einblick in das literarische Schaffen der Region? Von hoher Intensität waren dann die Texte tatsächlich, die zum Vortrag kamen. Innerhalb der erzählenden Literatur deckten sie nahezu alle Genres ab.

Durch den Abend führte mit Michael von Benkel zugleich der erste Vortragende. Er nahm das Publikum mit auf eine märchenhafte Reise zum "Königreich der Inseln" und damit in eine Welt, in der die Gesetze der Realität der Erwachsenen außer Kraft gesetzt sind: Die Regenbögen sind viereckig, das Meerwasser süß und die Schokolade schmeckt nach Paprika. Dass man hier in ein Restaurant gehen kann, in dem man sich an farbenfrohen Bildern satt sieht und nicht mit Geld zahlt, sondern singen muss, zeigt die Sehnsucht des Autors nach kindlicher Fantasie und Menschlichkeit. Im ersten Vortragsblock las auch Julia Rieger, eine der Siegerinnen des Schanzer Schülerschreibwettbewerbs. Ihre außergewöhnliche Kurzgeschichte über Oma und Enkel, deren gut gemeinten Geschenke sich gegenseitig neutralisieren, wies auf das Glück echter Freundschaft hin. Als erfahrene Autorin betrat schließlich Gisela Geiseler die Bühne und gab eine ihrer Katzengeschichten über Kater Mio zum Besten. Ihre Katzenbücher, deren drittes den Titel "Spurensuche" trägt, sind moderne Märchen und werden von Kindern und Erwachsenen gleichermaßen gelesen.

Den zweiten Block eröffnete mit Gerhard Trautmannsberger ein Hochkaräter. Der Gewinner des Literaturpreises "Goethes Schlittschuh" las die brillante Kurzgeschichte "Heimkehr" aus seiner Sammlung "Ruhepol". Darin kehrt der Ich-Erzähler nach mehr als 20 Jahren wieder in seine provinzielle Heimatstadt zurück, um dort seine Eltern zu beerdigen. Die verlogene kleinbürgerliche Idylle der Bewohner wird vom entfremdeten Erzähler umso schärfer wahrgenommen, als er erkennt, dass "dieses Loch" sein Leben verschluckt hat. Mahnende Worte gegen die unmenschliche Tierhaltung und den Schlachtbetrieb kleidete die deutsch-türkische Autorin Fitnat Ahrens in ihrem neuen Roman "Wolpertinger" in das sagenumwobene Tierwesen, das bei ihr aus fünf verschiedenen Tieren besteht. Unter ihnen übernimmt der Fuchs die Macht und kämpft gegen die Menschen und für das Wohl der Tiere und der Umwelt. Die Kurzgeschichte "Neustart" von Susanne Rasch machte dann eher nachdenklich: Aus der Sicht der Mutter schildert sie den richtigen und falschen Umgang mit einem geistig behinderten Kind, das anfangs nur Ausgrenzung und Häme erfährt, am Ende aber in seinem Anderssein akzeptiert wird.

Nach einer Pause mit musikalischem Intermezzo stellten Raphael Lichtenberg und Martina Funk ihre Texte vor. Dabei ging Lichtenberg in seinem Roman "HeavenLeaks. Wie die Erde wirklich entstand" reichlich respektlos, aber urkomisch mit dem biblischen Schöpfungsmythos um: Gott ist ein Firmenchef, der die Welt nach den Regeln des Kapitalismus erschafft und mit seinem Kollegen Zeus leidenschaftlich gern Golf spielt. Martina Funk stellte dann eine zauberhafte Feengeschichte um die Protagonistin Elfina vor, in der Wirklichkeit und Märchen nahtlos ineinander übergehen.

Zum Finale betrat der "Special Guest" und Bestsellerautor Timo Leibig die Bühne und las aus seinem Fantasy-Thriller "Nanos. Sie kämpfen für die Freiheit". Die Leseprobe machte sofort deutlich, warum der erst 33-Jährige Newcomer ganz oben auf den Bestsellerlisten steht: Leibig warf einen beklemmenden Blick in die Zukunft, in der die Regierenden durch Nanotechnologie in Lebensmitteln die Gedanken der Bevölkerung manipulieren und zur Gefolgschaft zwingen. Es gibt nur wenige, die Widerstand leisten können. Einer von ihnen ist Malek Wutkowski, doch der Kampf gegen die Übermacht scheint ausweglos zu sein. Cinzia Tanzella, die lange in Eichstätt lebte, inszenierte dann in ihrem Vortrag aus dem Roman "Weich unter meinen Füßen" die Lebenskrise und Selbstfindung zweier Frauen, einer Finnin und einer Rumänin, die nach Deutschland kommen und dort herbe Enttäuschungen erleben, aber auch einen Neuanfang wagen. Dabei gelang es ihr, die emotionale und nationale Entwurzelung beider Frauen authentisch zu versprachlichen. Der letzte Auftritt des Abends gehörte der Autorin Susanne Feiner, die aus zwei unveröffentlichten Kurzgeschichten las. Damit stellte sie einmal mehr unter Beweis, dass ihre scheinbaren Alltagsgeschichten in Wirklichkeit schräg, witzig und überraschend sind - oder bitterböse, wie die Erzählung über die Frau, die nichts mehr isst und sich nur von einem täglichen Glas Wasser ernähren kann. Sie entlarvt damit all die Leser, die dieser Geschichte nicht glauben, aber mit den Lügen über Klimawandel, Tempolimit und Fleischkonsum keine Probleme haben.

Die vielfältigen Texte, die an diesem Abend zum Vortrag kamen, warfen einen intensiven Blick in Märchen- und Fantasywelten, aber auch in die menschliche Seele und auf zwischenmenschliche Beziehungen und Missstände. Sie waren kurzweilig, melancholisch, spannend und kritisch. Eines aber zeigten sie ganz deutlich: Die Ingolstädter Literaturszene lebt und kann auf vielversprechende Talente zurückgreifen.

Robert Luff