Herr
Von Elternliebe erdrückt

Der Pädagoge Josef Kraus über den Trend, Kinder übermäßig zu verwöhnen. Der Kipfenberger stellt im DK-Forum sein Buch "Helikopter-Eltern" vor

28.03.2014 | Stand 02.12.2020, 22:53 Uhr

»Viele Kinder werden heute als eine Art Eltern-Portfolio betrachtet, in das man eine Menge investieren muss«, meint Josef Kraus. Im Rahmen der Reihe »LeseLust« tritt er am 8. April um 19.30 Uhr im DK-Forum Ingolstadt auf - Foto: Thinkstock

Ingolstadt (dk) Der Pädagoge Josef Kraus über den Trend, Kinder übermäßig zu verwöhnen. Der Kipfenberger stellt im DK-Forum sein Buch "Helikopter-Eltern" vor.

Herr Kraus, Sie beklagen in Ihrem neuen Buch „Helikopter-Eltern“, dass es immer mehr Eltern gibt, die übertrieben fürsorglich ihren Nachwuchs hegen. Was ist daran so schlimm?

Josef Kraus: Viele Kinder werden heute als eine Art Eltern-Portfolio betrachtet, in das man eine Menge investieren muss. Natürlich spielt da auch eine Rolle, dass die Anzahl der Kinder pro Elternpaar immer kleiner geworden ist. Da werden auf das meist einzige Kind noch mehr ehrgeizige, ja narzisstische Wünsche projiziert. Dazu kommt, dass Eltern heute, besonders wenn sie einen formal hohen Bildungsabschluss besitzen, ihre Kinder immer später bekommen. Heute sind die Mütter bei der Geburt ihres ersten Kindes durchschnittlich über 30 Jahre alt. In diesem höheren Alter ist eine gewisse natürliche Unbefangenheit nicht mehr in hinreichendem Maße vorhanden. Dann herrscht der Druck, dass wirklich alles klappen muss, denn schon altersmäßig reicht es oft nicht mehr zum zweiten Kind.

 

Was hat Sie dazu bewogen, das Buch „Helikopter-Eltern“ zu schreiben?

Kraus: Auf Wunsch der FAZ habe ich vor einem Jahr einen Namensbeitrag geschrieben. Vier Wochen später gab es ein ganzseitiges Interview in derselben Zeitung. Wenige Wochen danach nahm ich an einer Fernsehdiskussion bei Frank Plasbergs Talkshow „Hart aber fair“ teil, mit dem markanten Titel „Umsorgt vom Kreißsaal bis zum  Hörsaal – kommt jetzt die Generation Weichei“ Das waren die drei medialen Ereignisse, die dazu geführt haben, dass der Rowohlt-Verlag mich um dieses Buch gebeten hat.

 

Sie haben offensichtlich einen Nerv getroffen?

Kraus: Ich spüre tatsächlich in vielen Gesprächen, dass sich in den vergangenen Jahren etwas verändert hat. Die Bereitschaft, für das eigene Kind alles und noch mehr zu tun, wird immer größer. Auch die Bereitschaft der Eltern, Entscheidungen der Lehrer, etwa über Noten, anzufechten, hat deutlich zugenommen.

 

Sie wollen offenbar die Lehrer verteidigen und nun die Eltern schlechtreden?

Kraus: Nein, überhaupt nicht. Ich mache mir um zwei Kategorien von Eltern Sorgen: um die Eltern, die sich um alles kümmern, und um die, die sich um nichts kümmern. Beide zusammen machen etwa ein Drittel der Elternschaft aus. Was implizit heißt, dass ich zwei Drittel der Eltern für kooperativ und verantwortungsbewusst halte. Ich wollte keine Retourkutsche auf das „Lehrerhasser-Buch“ schreiben.

 

Aber viele Leute finden es gar nicht so schlecht, „Helikopter-Eltern“ zu sein; sie sehen das als Engagement für die Kinder.

Kraus: Das Übermaß der Fürsorge ist es, das mich stört. Wenn Eltern ihren Kindern den Schulweg nicht zutrauen. Oder nicht glauben, dass sie die Hausaufgaben allein bewältigen können. Schulweg und Hausaufgaben – das sind, finde ich, zwei sehr wichtige Vehikel, mit denen man die Kinder zur Eigenverantwortlichkeit erziehen kann. Es ist ein soziales Ereignis, den Schulweg selber und allein zu unternehmen. Kinder lernen Risiken richtig einzuschätzen, sie bewegen sich. Aber es gibt immer mehr Eltern, die ihre Kinder zur Schule fahren. Oder die Hausaufgaben: Die haben einen mehrfachen Effekt: nicht nur die Förderung der Eigenverantwortung. Hausaufgaben sind auch ein wichtiges Diagnostikum für den Lehrer.

 

Was sind die Ursachen für den Förderwahn?

Kraus: Ich denke, dahinter steht die Angst der Mittelschicht vor dem sozialen Abstieg. Wenn man sich die Arbeitslosenzahlen und andere Daten ansieht, gibt es für diese Sorgen allerdings keine rationalen Gründe. Eine andere Ursache ist die typisch deutsche Vorstellung: „Der Mensch beginnt erst mit dem Abitur.“ Besonders die OECD lässt in regelmäßigen Abständen verlauten: Deutschland brauche mehr Akademiker. Dabei wird völlig weggeblendet, dass Deutschland zusammen mit Österreich und der Schweiz die niedrigste Rate an Jugendarbeitslosigkeit in Europa hat. Das ist für mich das entscheidende sozialpolitische Kriterium. Der viel gerühmte Pisa-Sieger Finnland hat 20 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Und dann kommen noch die unseriösen Einflüsterer der Hirnforscher dazu.

 

Was haben Sie gegen die einzuwenden?

Kraus: Es gibt leider einige Neurobiologen, die sind eher hirnphysiologische Entertainer. Etwa Gerald Hüter. In dessen Buch „Jedes Kind ist hochbegabt“ weckt er bei vielen Eltern Hoffnungen der Art: Wenn ich jetzt nicht den Ratschlägen von Hüter folge, dann wird mein Kind kein Genie. Das stört mich. In Wahrheit ist die Hirnforschung gerade mal so weit, das bestätigen zu können, was uralte pädagogische Erfahrung ist. Zum Beispiel die Erkenntnis, dass es Energie und Zeitaufwand erfordert, Wissen vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis zu hieven.

 

Das Verhältnis zwischen Eltern und ihren Kindern hat sich in den vergangenen Jahrzehnten spürbar verbessert. Während es heftige Auseinandersetzungen während der Zeit der 68er-Bewegung gab, ist der Kontakt heute ausgesprochen entspannt. Ist das nicht ein großer Fortschritt?

Kraus: Ja. Kinder sind aber mit einer Erziehung auf Augenhöhe oft überfordert. Achtjährige oder Zwölfjährigen wollen nicht endlos diskutieren, sondern auch mal ein klares Wort hören.

 

Woher wissen Sie das?

Kraus: Den Eindruck habe ich bei Klassenbesuchen gewonnen. Von Zeit zu Zeit unterhalte ich mich mit den Kindern darüber, welchen Typus von Lehrer sie sich wünschen. Dann werden meistens folgende Eigenschaften erwähnt: Er soll gerecht sein, gut erklären können. Und er soll uns mögen, aber nicht zu sehr. Lehrer sollen also ein gewisses Maß an Distanz zum Schüler haben. Und regelmäßig wird gefordert: Der Lehrer soll eine klare Richtung vorgeben und sich nicht auf der Nase herumtanzen lassen.

 

Immer wieder beklagen Experten, dass in kaum einem anderen Land der Schulerfolg so sehr von der sozialen Herkunft der Eltern abhängt wie in Deutschland. Wird manchmal auch zu wenig gefördert?

Kraus: Wenn ich von einer pädagogischen Fee die Möglichkeit geboten bekäme, mir mit Erfolgsgarantie entweder die Gruppe der Eltern, die sich um nichts kümmert, oder die andere Gruppe, die sich um alles kümmert, vorzunehmen, würde ich mich natürlich der ersteren Gruppe zuwenden.

 

Aber produziert unser Schulsystem nicht massenhaft Bildungsverlierer?

Kraus: Diese These ist bis zu einem gewissen Grad ein methodisches Artefakt. Sie beruht in der Regel auf Daten, die im Zusammenhang mit dem Pisa-Test erhoben wurden, bei dem man 15-Jährige testete. Für diese Altersgruppe wird eine Korrelation zwischen Gymnasiumsbesuch und sozialer Herkunft hergestellt. Aber: Das ist eine Momentaufnahme zu einem Zeitpunkt, zu dem die Schullaufbahn noch nicht abgeschlossen ist. Um seriös zu bleiben, müsste dieser soziale Zusammenhang bei 20- oder 22-Jährigen untersucht werden.

 

Warum?

Kraus: Gehen wir mal von Studierberechtigungen aus. Eine Studierberechtigung erwerben je nach Bundesland zwischen 43 bis 50 Prozent der Schüler, ohne dass sie ein Gymnasium besucht hätten – in Bayern etwa über die Berufsoberschule oder die Fachoberschule. Dort haben wir meist einen hohen Anteil an Schülern aus sogenannten bildungsfernen Schichten. Meine These ist, dass gerade diese Art der vertikalen Durchlässigkeit auch eine ausgesprochen soziale Durchlässigkeit mit sich bringt.

 

Trotz all der Förderungen beklagen viele Eltern aber einen steigenden Leistungsdruck in den Gymnasien, besonders seit das G 8 eingeführt wurde.

Kraus: Ich habe 2003, als Stoiber das G 8 im Handstreichverfahren eingeführt hat, zu den heftigsten Kritikern gehört. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die Klage über den Stress im G8 war vor zehn Jahren berechtigt. Den vielen Nachmittagsunterricht habe ich für sehr belastend gehalten. Aber seitdem hat sich viel getan. Die Pflichtstunden wurden massiv gekürzt, die Lehrpläne wurden stark, manchmal sogar über alle Maßen abgespeckt. Das Gerede um den Stress ist inzwischen ein Jammern auf hohem Niveau. Ich will zwar keine chinesischen Schulverhältnisse. Aber wenn ich das vergleiche, dann sind wir in Deutschland das andere Extrem.

 

Noch eine eher private Frage: Waren Sie gegenüber Ihrem Sohn je in der Gefahr ein Helikopter-Vater zu sein?

Kraus: Ich kann ruhigen Gewissens sagen: Ich war kein Helikopter-Vater. Auch weil ich wegen Schule und Schulpolitik überhaupt nicht die Zeit dazu hatte. Mit einer gewissen Selbstironie muss ich zugeben, dass bei uns zu Hause eher väterliche Fast-Education am Wochenende stattgefunden hat. Dadurch hing natürlich gelegentlich auch mal der Sonntagsfrieden schief. Ich gebe aber zu, dass meine Frau und ich manchmal dazu verführt sind, Helikopter-Großeltern zu werden.

 

Die Fragen stellte Jesko Schulze-Reimpell.

 

Josef Kraus liest am 8. April, 19.30 Uhr (Einlass: 18.45 Uhr), im Ingolstädter DK-Forum, Stauffenbergstraße 2a. Karten gibt es in allen DK-Geschäftsstellen, unter der Tickethotline (08 41) 9 66 68 00. Weitere Informationen im Internet unter www.donaukurier.de/leselust