Herr
"Eigensinnig und rebellisch"

Rainald Maria Goetz über sein Schreiben und die Gemeinsamkeiten mit Marieluise Fleißer

21.11.2013 | Stand 02.12.2020, 23:24 Uhr

Herr Goetz, was hat Sie dazu bewogen, die literarische Form des Romans zu wählen, nachdem Sie bis 1999 Stücke, Berichte, Traktate geschrieben haben

Rainald Maria Goetz: Ich wollte diese Figur des JOHANN HOLTROP, deren Geschichte mich selbst so fasziniert hat, möglichst packend u. direkt erzählen. Dazu ist der Roman die am besten geeignete Form.

 

Ist für Sie der Roman die geeignete Form geworden, um politisch und sozial etwas zu bewirken? Begonnen haben Sie ja mit neuen literarischen Formen und Sie haben die Internetkommunikation salon- und literaturfähig gemacht.

Goetz: Immer ist für die Literatur das am interessantesten, was neu da ist und doch noch nicht ganz verstanden, nicht gesellschaftsweit überall durchgesetzt. Das war im Jahr 1998, als ich mein Buch ABFALL FÜR ALLE, Roman eines Jahres, Tag für Tag fortlaufend für die Publikation im Internet geschrieben habe, die Welt des Internets mit ihren radikal neuen Möglichkeiten der textlichen Kommunikation. Jetzt hat der totale, überwältigende Siegeszug des Internets eine neue Verborgenheit der traditionellen Formen mit sich gebracht, die mir gut gefällt. Deshalb habe ich mich jetzt genau dem, der urtraditionellen Form des realistischen Romans, mit meinem neuen Buch zugewendet.

 

„Johann Holtrop“ ist die Analyse der Verflechtung von Wirtschaft und Medien. Wie haben Sie recherchiert? Zeitungen gelesen, Fachliteratur? Waren Sie in Archiven? Sammeln Sie wie ein Journalist O-Töne, wählen Sie die direkte Befragung, das Interview? Oder hören Sie einfach nur irgendwo zu? Heimlich gar?

Goetz: Alles was Sie nennen, habe ich gemacht und benützt. Dabei ist eine irrwitzig riesige und praktisch unverwaltbare Datensammlung entstanden. Der eigentliche Prozess der Recherche ist dann der Imaginationsvorgang beim Schreiben selbst, die maximal konzentrierte Identifikation mit den zu beschreibenden Situationen und den in ihnen handelnden Personen. Da wird alles vorher angesammelte Wissen in wilder Weise aktiviert. Das bewirkt diesen unglaublichen Spaß beim Schreiben.

 

Wie lange dauert das Schreiben? Schreiben Sie alles am Stück oder immer dann kurze Texte, wenn Sie eine Idee, etwas erlebt oder recherchiert haben?

Goetz: Wenn alles stimmt, kann es sehr schnell gehen. Die Szene, in der sich Mack und Holtrop an einem Abend in Holtrops Haus zum ersten Mal begegnen, habe ich in ein paar Stunden genau so hingeschrieben, wie sie jetzt im Buch steht, und jedes Mal, wenn ich die Passage lese, freue ich mich daran. An anderen Stellen habe ich für nur einen Satz mehrere Tage gebraucht. Zum Beispiel wird Holtrop im Auto, unterwegs nach Berlin, von einer jungen Journalistin interviewt, da geht links die Sonne auf spektakuläre Weise unter. Dieser Satz kam mir beim Schreiben sehr wichtig vor, und ich habe tatsächlich eine ganze fünftägige Woche darauf verwendet, um nur diesen einen Satz zu schreiben: „Wo über der weiten Fläche der Leipziger Tiefebene das letzte Licht des Tages in einem hell leuchtenden Horizontstreifen zusammengedrängt war, weiter oben am Himmel war es schon tiefschwarz Nacht.“ (Seite 98). Im Nachhinein bin ich mir jetzt aber gar nicht mehr so sicher, ob dieses Ergebnis wirklich das bestmögliche ist. Denn das Bild wirkt in der anstrengend genauen Formulierung beim Lesen vielleicht doch ein bisschen aufdringlich ausgefallen, damit auch ein bisschen eitel, also nicht wirklich optimal.

 

Ihr Roman hat eine klare Gliederung in drei Teile – „orte, taten, tage“. Jeder Teil beginnt auch mit einem gezeichneten Männerporträt. Haben Sie diese gezeichnet?

Goetz: Ja, diese Zeichnungen sind von mir. Ich wollte die Vorstellung der Hauptfigur, deren Aussehen im Text verbal nie eindeutig präzisiert wird, auf etwas fassbar Altmodisches, im Verfall, der über Jahre geht, ganz Konkretes und zugleich wie Geträumtes hin aufreißen. Bei meiner Lesung in Köln habe ich eine dieser Holtrop-Zeichnungen zu einem riesigen Plakat vergrößert, das hing hinter dem Lesepult im WDR-Saal, und ich ging davor zwischen Tisch und Pult herum als der lesende Verkünder des überlebensgroßen Holtrop hinter mir. Das fühlte sich sehr theatral und bildstark an.

 

Einzelne Worte sind in Ihrem Roman durch Schreibung in Versalien hervorgehoben. Eines davon ist „Kapital“, eines „Herz“. Kritisieren Sie den Kapitalismus ohne Herz? Oder nur die menschliche Gier, die es in allen gesellschaftlichen Systemen gibt?

Goetz: Wie jeder Schreiber liebe ich die Worte und ganz besonders liebe ich auch jeden einzelnen Buchstaben. In der Versalienschreibweise treten die Worte als Worte vors Auge des Lesers, sie schieben sich vor die vom Text vorgestellte Szenerie, vor das vom Text vorgetragene Argument. Dieser Autonomisierungsvorgang der SCHRIFT, aus der der Text gemacht ist, betont das vom Text Gesagte, dementiert es aber zugleich auch; denn es macht den Leser zum Betrachter und verweist so auf eine vom Inhalt komplett abgelöste ganz besondere Schönheit, die Schönheit der Schrift. KAPITAL: schön! HERZ: Wahnsinn! KRITIK: ja!

 

Sie sind promovierter Mediziner: Halten Sie unsere Gesellschaft für krank? Wenn ja, woran ist sie erkrankt?

Goetz: Der Mediziner ist ein Spezialist für die Not des einzelnen Menschen. Dem wendet er sich zu, dem will er helfen. Die Erhebung des Befunds bezieht sich auf das individuelle Leid. Es ist ein Beruf ganz am Boden, nah am anderen, das macht seine Würde. Darin ist er auch eine Schule für das Schreiben. Insofern habe ich mein Mediziner-Sein immer als etwas Richtiges empfunden, das mein Schreiben provokativ begleitet; im Hingezogensein zum Ernst, zur Tragik, zum Detail, zum einzelnen Mensch. Auch in der Skepsis gegen Diagnosen am nicht überblickbaren, deshalb schwer erkennbaren Objekt, wie es etwa vom Wort „Gesellschaft“ bezeichnet ist. Insofern ist mein großes Interesse an Theorie der Gesellschaft auch von dieser Erkenntnisskepsis, die aus der Medizin kommt, getragen. Außerdem schwingt in dem Bild, dass man ganze Gesellschaften für „krank“ hält, immer auch etwas vom nationalsozialistischen Wahn mit, ein Subkollektiv für nicht gesund genug zu halten, um mitleben zu dürfen mit der Mehrheit. Auch KRANK ist übrigens ein besonders schönes Wort. Für die Analyse von Problemen von Gruppen oder gar ganzen Gesellschaften ist es aber wenig gut geeignet.

 

Die Dichterin Ingeborg Bachmann hat einmal gesagt, dass alle Männer krank seien. Ist unsere Gesellschaft vielleicht deshalb krank, weil wir in einer von Männern dominierten Gesellschaft leben?

Goetz: Nein, das ist Unsinn. Nach meiner Beobachtung sind Frauen nicht weniger krank als Männer, auch wenn sie eindeutig anders sind, und Orte der Gesellschaft, die von Frauen dominiert sind, nicht paradiesischer oder auch nur besser verfasst als die von Männern dominierten. Ingeborg Bachmann hat sich als Frau, das weiß man heute ja in einer höchst betrüblichen Klarheit, zum Opfer von besonders scheußlichen Männern gemacht, wie übrigens viele Frauen ihrer Zeit, und daraus dann offenbar wenig intelligente Gedanken abgeleitet.

 

Welche Gesellschaft, welche Gesellschaftsform wünschen Sie sich?

Goetz: Ich wünsche mir, dass ich die Gesellschaft, so wie sie ist, verstehen kann. Denn nur dann kann ich sie in meiner Arbeit auch zeigen. Damit trage ich dazu bei, dass andere sich ihr eigenes Bild von der bestehenden und damit auch von der von ihnen erwünschten Gesellschaft machen können. Und das wäre sicher eine schöne Aufgabe für die Kunst. Sie ist auch ausreichend schwierig.

 

Ihr Roman beschreibt die sogenannten Nulljahre ohne eine Spur zu legen, wie die Zukunft anders, besser aussehen könnte. Haben Sie keine Hoffnung? Keine Utopie?

Goetz: Schon jetzt besteht eine ganz andere Welt als die der Nulljahre. Es war ein ziemlich schreckliches Jahrzehnt, und mein Projekt SCHLUCHT, das sich der Erkundung dieser Zeit verschrieben hat, ist noch nicht beendet. Meine Hoffnung ist, dass ich die geplanten Bücher, an denen ich arbeite, die sich, während sie Finsternis der Nulljahre darstellen, in ihrer Energie dieser ganz anderen heutigen Gegenwart verdanken, auch wirklich zustande kriege.

 

Ihr literarisches Ich „schreitet wütend voran“. Gab es ein Schlüsselerlebnis für diese Wut?

Goetz: Nein, es „schreitet“ nicht, es „schritt“, im Imperfekt, einsilbig, ein ganz anderes Wort. „Wütend schritt ich voran!“ das ist mein Grundlebensgefühl.

 

Wie sieht es mit dem Autor Goetz aus? Sind sie auch wütend? Machen Sie dagegen etwas zur Entspannung? Treiben sie Sport?

Goetz: Nein, ich hasse diesen Körperkitsch. Außerdem finde ich eine große geistige Angespanntheit sehr weltentsprechend, die insgesamtige Nichtentspannheit des ganzen Menschen also gar nicht falsch.

 

Wo leben und arbeiten Sie am liebsten? In Berlin, in München (woher Sie stammen), an einem ganz anderen Ort Deutschlands oder der Welt?

Goetz: Ich lebe und arbeite am liebsten in meinem Arbeitszimmer. Alle paar Jahre wird es woanders aufgestellt. Zurzeit ist es noch Berlin. Aber so langsam wächst die Sehnsucht, von dort auch wieder wegzugehen.

 

Sie erhalten den Marieluise-Fleißer-Preis. Schätzen Sie die Autorin? Sehen Sie Parallelen in Ihrem Werk und dem der Fleißer?

Goetz: Wir sind als Südgeborene in Deutschland schon ein besonderer Schlag: Marieluise Fleißer, Kroetz, Achterbusch, Fassbinder, Werner Fritsch, natürlich gehört auch Bernhard dazu. Eigensinnig und rebellisch, an Problemen des Zusammenlebens auf empörte Art interessiert. Wir können manchmal singen und das Thema bespielen mit der Musikalität einer Sprache, die wir nicht von uns selbst, sondern von der offenen Teilhabe am Mitleben mit den anderen haben, dem Duktus der real geredeten Rede mit Freude ausgeliefert. Danke, in jedem Satz, an die uns umgebende Welt.

 

Es fragte Barbara Fröhlich.