Ingolstadt
Grabesstimmung und Sterbeszenen

Sharon Kam und das Jerusalem Quartet gastieren beim Konzertverein Ingolstadt

25.01.2022 | Stand 22.09.2023, 23:27 Uhr
Dezente Kleidung, hochemotionale Musik: Sharon Kam und das Jerusalem Quartet im Ingolstädter Festsaal. −Foto: Schaffer

Ingolstadt - Manchmal würde man gerne wissen, was im Kopf eines Komponisten vorgegangen ist. Da implantiert der 29-jährige Ludwig van Beethoven mitten in sein erstes, freundlich-lichtes Streichquartett (op. 18, Nr. 1) ein geradezu tragisch aufgeladenes Adagio, ein Stück Musik wie eine große düstere Musikerzählung. Das Narrativ beginnt mit einer wehmütigen Melodie, die bald durch unruhige Cello-Einwürfe gestört wird. Kurz vor dem Ende ist die Musik von einem dramatischen Aufbäumen durchdrungen, theatralische unterbrochen von langen Pausen, bevor die letzten Töne

in einem hoffnungslosen Pianissimo in tiefer Resignation verlöschen.
Tatsächlich finden sich in Beethovens Briefen Hinweise darauf, dass der Komponist hier an die Grabesszene von Shakespeares "Romeo und Julia" dachte - ein vielleicht doch zu drastischer Stoff für ein erstes Streichquartett.
Das Jerusalem Quartet spielt gerade dieses Adagio mit herzzerreißender Intensität. Der sonst so schöne temperierte Wohlklang der vibratowarmen Töne, die die vier Israelis so wunderbar beherrschen - er kommt hier plötzlich kaum mehr zur Anwendung. Die Vier lassen vielmehr die Töne geisterhaft fahl klingen, die Cello-Einwürfe fast geräuschhaft massiv, beim letzten empörten Kampf gegen das Schicksal geben sie alles, fetzen und wüten auf den Saiten. Was für eine fantastische, bewegende Darstellung!
Wie überhaupt das Ensemble eindrucksvoll zeigt, dass es zu den weltbesten Streichquartetten gehört - nicht nur durch souveräne Technik, sondern weil die Musiker Sinn haben für die vielen kleinen Ideen Beethovens, die winzigen Momente, wie sich die Instrumente Motive zuspielen, wie durch kleine Verzögerungen, Augenblicke der Ironie, des Witzes eingeschoben werden. Ihre Beethoven-Darstellung ist so voller Bezüge. Gleichzeitig spielen die Vier in wunderbarer Weise gleichermaßen individuell und zugleich so, als wären sie Teile eines großen, fiktiven Instruments. Denn der Grad an Perfektion ist enorm.

Und daran ändert sich auch nichts, als Sharon Kam beim zweiten großen Werk des Abends hinzutritt - das Klarinettenquintett von Johannes Brahms, eins der letzten Werke des Komponisten. Denn Kams Klarinettenklang fügt sich absolut perfekt ins Gefüge der silbrig schimmernden Streicherbewegungen des Quartetts ein. Im höchsten Maße eindrucksvoll ist bereits der erste Einsatz ihrer Klarinette, wenn vor den samtigen Wellenbewegungen der Streicher wie in einer großen Improvisation ihre Töne sich emporschrauben zu einem ersten großen Höhepunkt und wieder im Dunkel verlöschen. Das ist keineswegs abgeklärt gespielt, sondern fast schon verzweifelt.
Ganz ähnlich wie beim langsamen Beethoven-Satz, ist das späte Brahms-Werk mit einer wehmütigen Abschiedsstimmung imprägniert. Kam und das Jerusalem Quartet allerdings geben sich dieser herbstlichen Stimmung nicht allzu gefühlig hin, sie setzen kraftvolle Akzente, formen wütende Einwürfe, heftigen Widerstand.
Wirklich milde klingt erst die Zugabe, der langsame Satz aus Mozarts Klarinettenquintett. Musik, zu schön, zu sehnsüchtig, um damit aufzuhören. Hoffentlich werden diese Musiker bald wieder beim Konzertverein auftreten. Besser als sie kann man kaum spielen.

DK


Jesko Schulze-Reimpell