Ingolstadt
Gesamtkunstwerk Simone Kermes

Die Sopranistin singt Songs und Chansons beim Konzertverein Ingolstadt, begleitet wird sie vom fantastischen Alliage-Quintett

12.05.2019 | Stand 23.09.2023, 6:58 Uhr
Selbstinszenierung ist alles: Simone Kermes und das Alliage-Quintett im Ingolstädter Festsaal. −Foto: Schaffer

Ingolstadt (DK) Inszenierung ist manchmal fast alles. Wie tritt man auf, welches Kleid trägt man, wie sitzt die Frisur. Bei der grandiosen Sängerin Simone Kermes ist all das fast genauso wichtig wie der Gesang. So ist auch der erste Auftritt entscheidend. Und der will an diesem Abend im nahezu ausverkauften Ingolstädter Festsaal zunächst nicht so ganz gelingen. Einen Moment lang steht die Sängerin zu lange am Bühnenrand, die fünf Musiker des Alliage-Quintetts wollen nicht beginnen ohne die Kermes, aber die möchte erst erscheinen, wenn die Musik bereits begonnen hat. Das ist wirkungsvoller. Und am Ende geschieht es auch so.

Denn die Sopranistin zelebriert sich als Gesamtkunstwerk. Ihre Garderobe ist auch an diesem Abend extravagant, aus einem weiten Ausschnitt ragen Schultern und Kopf heraus wie eine aufgehende Blüte. Ein Aufzug von barocker Prachtentfaltung. Eine feudale Erscheinung.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Kermes ihre größten Erfolge mit Barockarien hatte. Mit dieser Musik ist sie mehrfach in der Region aufgetreten, ihre CD-Einspielungen sind allesamt Verkaufsschlager. Hier ist sie vielleicht einzigartig: Denn Kermes vermag es, den alten Arien neues Leben einzuhauchen. Indem sie die Affekte ernst nimmt, ja hochdramatisch auskostet, wie man das (vielleicht außer bei Cecilia Bartoli) noch nie gehört hat. Da geht es nicht nur um sauber getroffene Töne, sondern um Emotionen, um schnaubende Wut, um Ärger, Liebesrausch und tiefe Depressionen. Kermes entwickelt dabei furiose Energien, vulkanisches Temperamt, sie stilisiert sich zur "Lady Gaga des Barocks" wie immer wieder geschrieben wird.

Natürlich hat Simone Kermes auch andere Partien gesungen, hat etwa mit dem Genie Teodor Currentzis Mozart aufgenommen, Verdi genauso interpretiert wie Rossini. Alles mit gutem Erfolg. Aber letztlich bleibt sie im Bewusstsein der Öffentlichkeit die "Crazy Queen of Barock".

Wenn sie nun beim Konzertverein Ingolstadt gastiert, möchte sie den gleichen Effekt erzielen, wie als Barock-Diva. Aber das ist nicht leicht. Selbst dann nicht, wenn sie Evergreens singt wie "Non, je ne regrette rien" oder in der Zugabe den Weltkriegs-Schlager "Lili Marleen". Interessant ist gerade der Édith-Piaf-Chanson. Denn Simone Kermes' Stimme fehlt all das, was den Reiz der Piaf ausmacht, die gutturale Tiefe der Stimme, die Leichtigkeit, mit der sie die Melodie ins Mikrofon trompetet, die krachenden Konsonanten. Die Darstellung der Kermes ist deshalb schon völlig anders, weil sie kein Mikrofon verwendet und so viel mehr Kraft aufwenden muss. Sie kommt offenbar nicht einmal auf den Gedanken, die Piaf zu imitieren. Vielmehr singt sie das Lied verhalten, traurig, immer leiser werdend, mit einer reichen Palette an Differenzierungen und Farben. Die Kermes macht aus dem Chanson ein gewichtiges Kunstlied, sie überhöht es zur klassischen Musik. Das ist großartig, gewagt, enttäuschend (für Piaf-Fans) und gleichzeitig überraschend und reizvoll. Kaum anders "Lili Marleen", denn dem Lied nimmt sie alle naive Leichtigkeit, sie lädt die Melodie vielmehr auf mit Nuancen, lässt die Melodie traumhaft leise verklingen. Auch so erhält die eher simple Melodie plötzlich Größe, wird zur Antikriegsdemonstration.

Simone Kermes hat sich an diesem Abend ein sehr schweres Programm vorgenommen, auch weil es so vielseitig ist. In den französischen Arien und Liedern artikuliert sie vorzüglich und trifft genau die Idiomatik dieser Musik: etwa bei "Les Filles de Cadix" von Leo Délibes oder bei "Les chemins de l'amour" von Francis Poulenc. Oder den Liedern von Eric Satie. Dessen "Elegie" für Sopran und Klavier klingt wirklich niederschmetternd, ein Akt des tiefen Weltschmerzes, unendlich zart gestaltet. Bei Jacques Offenbachs berühmter Automaten-Arie aus "Les contes d'Hoffmann" zeigt sie viel Humor und erstaunliche Virtuosität. Und herausragend gestaltet ist Leonard Bernsteins Arie "Glitter und be gay", weil sie auch hier all ihre Emotionen entzünden kann und gleichzeitig mit so viel Witz die virtuosen Allüren einer Opernprimadonna zu persiflieren vermag.

Überhaupt ist Kermes vielleicht bei allem technischem Können, bei all den schnellen Koloraturen, den Spitzentönen im Pianissimo, den gehauchten und den gebrüllten Tönen vor allem deswegen so überwältigend, weil sie Emotionen hervorrufen kann wie nur wenige, weil sie in besonderer Weise mit weit aufgerissenen Augen, mit einem kleinen Tänzeln das Publikum mitreißen kann. Da sind kleine Schwächen der Intonation, ein manchmal etwas zu kühles Timbre Nebensache.

Simone Kermes tritt fast immer mit hervorragenden Ensembles auf, meist Originalklang-Orchestern. Diesmal allerdings gastiert sie mit einer völlig anderen Formation: einem Saxofon-Quintett (vier Saxofonisten und eine Pianistin). Für das Alliage-Quintett gilt der Satz: Es ist eigentlich egal, welches Instrument man spielt, Hauptsache man hat künstlerisch etwas zu sagen. Das Alliage-Quintett spielt einfach fantastisch, weil alle fünf Musiker sich mit höchstem musikalischen Einsatz in den Notentext vertiefen. Sicher, Werke wie Leonard Bernsteins Ouvertüre zu "Candide" klingen mit großem Orchester farbiger. Aber die Fünf machen das allemal wett mit ihrer Musikalität, ihrem Feuer. Hinreißend gelingt so auch Jun Nagaos "Rhapsodie über Themen aus Georges Bizets Oper ,Carmen'". Und bei Kurt Weills "Fantasie über fünf Songs aus ,Die Dreigroschenoper'" hört man auf einmal, was für vielschichtige Musik das ist. Und man erlebt, mit welchem Witz Ensemble-Leiter Daniel Gauthier am Sopransaxofon die Mackie-Messer-Melodie in den Saal zaubert. Was für ein Abend!

Ganz am Ende noch eine stupende Zugabe: eine zutiefst verinnerlichte Version des Händel-Schlagers "Lascia ch'io pianga". Die Saxofone blasen dabei so samtig, als wären sie Geigen und Celli. Barock ist bei der Kermes eben keine Frage der historischen Korrektheit, sondern ein Feeling, ein Lebensgefühl - und auch der Inszenierung.

Das Konzert wurde vom BR aufgezeichnet und wird am 10. Juni, 16.05 Uhr, gesendet.

Jesko Schulze-Reimpell