Gegen den Lockdown-Blues

Tiger Lillies & Edgar Allan Poe: Mit "It's not easy" eröffnet das Theater Ingolstadt die neue Open-Air-Bühne im Reduit Tilly

06.06.2021 | Stand 23.09.2023, 19:01 Uhr
Wild-poetische Bildwelten und herrliche Musik: "It?s not esy" ist ein unterhaltsamer Abend über Pandemien und die Folgen. −Foto: Olah

Ingolstadt - Etwa eine Stunde muss man auf den titelgebenden Song warten.

Und dann klingt "It's not easy" eigentlich ziemlich beschwingt, ganz anders als der ernste, fast beschwörende Text vermuten lassen würde: "Covid 19 - why do you kill people? " Aber schließlich stammt der Song aus der Feder von Martin Jacques und seinen Tiger Lillies und da ist das Schräg-Schrullige, Bitterbös-Makabre, Grandios-Fragwürdige ja eigentlich Programm.

Als sich Martin Jacques und Adrian Stout 2020 coronabedingt in Berlin und Athen jeweils in häusliche Quarantäne begeben und alle Auftritte absagen mussten, beschlossen die Spezialisten für Untergangsszenarien genau das zum Thema eines Albums, nein, gleich mehrerer Alben zu machen. Singen über ein Virus, über die Pandemie, mit Wut und Häme, mit Verzweiflung und Witz. In einem rumpelnden frechen Mix aus Vaudeville und Gypsy Chanson.

Knut Weber hat die Covid-19-Songs der Tiger Lillies zur Grundlage eines Abends gemacht, der sich auf vielfältige Weise mit dem Virus auseinandersetzt. Woher kommt es? Welche Auswirkungen hat es auf das Leben des Einzelnen und der Gesellschaft? Und wird es jemals wieder so sein wie vorher? Social distancing, Wirtschaftskrise, Depression, Aggression, Isolation, Hysterie, Trauer, Angst. Die Exzentriker besingen eine Welt im Schockzustand, machen sich lustig über den "Sanitizer Surviver" ("Wo Seife ist, da ist auch Hoffnung"), frotzeln über Fake News und Verschwörungstheorien ("Just a flu"), formulieren in "Cough" eine Ode an den Husten und beschwören in "Testing" das Streben nach Gewissheit. Aber ihre Songs erzählen auch vom einsamen Sterben, von Paranoia, Kummer, mangelnder Solidarität, existenzieller Not.

"Will we ever play again? " Eine Frage, die vor allem die Künstler umtreibt. Seit November waren die Theater geschlossen, jetzt dürfen sie bei stabilen Inzidenzwerten wieder öffnen. Mit strengen Abstands-, Sicherheits- und Hygienekonzept. Mit Maskenpflicht und negativen Tests für das Publikum. Und weil draußen zur Zeit mehr geht als drinnen, setzt das Stadttheater Ingolstadt bei der Wiedereröffnung nach dem Lockdown gleich auf drei Freilichtbühnen. Die Sommerbühne vor dem Jedermann wurde bereits vor einer Woche eröffnet. Im Turm Baur startet der Betrieb am 19. Juni mit dem "Kleinen Horrorladen". Und am Samstag wurde nun eine neue Open-Air-Spielstätte im Reduit Tilly eingeweiht. Mit einem Abend über Pest und Corona, über vergessene, zornige, hilflose Künstler und über die neue Lust zur Normalität.

Knut Weber hat als Rahmenhandlung eine Erzählung von Edgar Allan Poe gewählt, in die er die bizarren Songs der Tiger Lillies bettet. "König Pest" erzählt von zwei Matrosen des Handelsschoners "Free and Easy", die im pestverseuchten London des 14. Jahrhunderts in einer Kaschemme die Zeche prellen und vor dem Wirt in den verbotenen Sperrbezirk fliehen. Im Keller eines Bestatters treffen sie auf eine makabere Gesellschaft, die Geschichten erzählend und Wein trinkend der Epidemie entfliehen möchte. Poes Erzählung "Die Maske des Roten Todes" (Poe war 1831 in Baltimore Zeuge einer großen Cholera-Epidemie und der von ihr ausgelösten Reaktionen geworden) kommt genauso zur Sprache wie Alexander Puschkins "Gastmahl zur Zeit der Pest".

Immer wieder schlüpfen die Untoten in die Rollen der Figuren, verweben Literarisches mit der Musik der Tiger Lillies, springen durch Zeit und Raum, zitieren Seuchen, die die Welt veränderten, machen sich lustig über Maßnahmen von gestern und heute, die sich auf eigenartige Weise ähneln: Veranstaltungsverbote, Quarantäne, Grenzen schließen, Testnachweise.

Wunderschön ist der theatrale Raum, der sich in diesem Teil der Landesfestung am südlichen Donauufer auftut. Das Publikum sitzt an Zweiertischen. Eingerahmt von sonderbaren Wesen, halb Mensch, halb geflügeltes Insekt, Vogelgeistern, Seifenblasen spuckenden Blütenknospen, Corona-Tyrannen. Vor dem klassizistischen Bau wurde eine kleine Bühne errichtet, in deren Zentrum die Musiker um Nina Wurman Platz finden, die ganz und gar den Tiger-Lillies-Style verinnerlicht haben - samt weiß geschminkten Gesichtern und singender Säge. Im Halbrund davor thronen die Diven in ihren Särgen. Und da haben Ausstattung (Monika Gora) und Make-up ganze Arbeit geleistet: Hohlwangige Matronen in Kleidern von verwesender Pracht sieht man da, schwindsüchtige Mädchen, toughe Zombieprinzessinen, zweifelhaft-üppige Gossenschönheiten, mit Corona-Krone oder zierlichem Schiffswrack im hochtoupierten Haar. Herrlich sind sie anzusehen. Und wie sie singen! Manuela Brugger, Mira Fajfer, Judith Nebel, Teresa Trauth, Victoria Voss und Antje Rietz (für ihre Trompete wurde ein eigener kleiner Sarg gezimmert) bilden ein formidables Frauen-Sextett, gegen das das Männerduo aus Richard Putzinger und Ulrich Kielhorn kaum Chancen hat. Preziosen sind diese Songs. Mit Hingabe und Witz gleichermaßen interpretiert. Eindringlich. Betörend. Virtuos. Kraftvoll. Unsagbar traurig. Unsagbar schön. Und vielleicht wäre es besser gewesen, sich auf diese Musik zu konzentrieren, die sowieso schon alles über die derzeitige Problematik mit all ihren Gefühlsverwirrungen erzählt. Noch dazu mit dieser Drastik, Radikalität, ironischen Brechung, mit der die Tiger Lillies zu Werke gehen.

Der Abend ist unterhaltsam, keine Frage. Er lebt von wild-poetischen Bildern (auch solchen, die Stefano Di Buduos Videokunst im Dunkel auf die Wände malt), von dieser exzessiven schwermütig-gaukelnden Musik und den spielwütigen Akteuren, aber er zerfasert auch in einem Zuviel. Das beginnt schon damit, dass das Spiel auf der Donau und vor dem Tor auf einer weiteren Bühne beginnt (die Wirtshausszene), sich bisweilen in allzu humoristischen Textscharmützeln ergeht und am Ende das Theatrale noch einmal mit Nachdruck mit der Realität konfrontiert. Dann nämlich nehmen die Schauspieler ihre Perücken ab, ziehen Alltagskleidung über, wischen sich die Zombie-Schminke aus den Gesichtern, heißen wieder Antje Rietz und Manuela Brugger und Mira Fajfer. Und wenn sie singen: "Will we ever play again? " dann schwingt all der Frust und die Furcht und die Sehnsucht der vergangenen Monate mit. Denn gerade der Kulturbetrieb wurde durch Corona besonders arg gebeutelt.

Trotzdem: Es ist herrlich, dass wieder gespielt wird. Live. Vor Publikum. Trotz des Regens bei der Premiere. Wir hatten das alles so sehr vermisst. "It's not easy" ist ein Abend gegen den Lockdown-Blues. Nach zweidreiviertel Stunden gibt es dafür langen Applaus.

DK


Freilichtbühne im Reduit Tilly, Vorstellungen bis 4. Juli, jeweils um 20.30 Uhr. Neben dem Ticket (Kartentelefon: (0841) 30547200) benötigt man einen tagesaktuellen negativen Test. Es gelten Maskenpflicht und die üblichen Sicherheitsvorschriften. Es gibt keine Bewirtung, man kann aber Getränke und Speisen selbst mitbringen.

Anja Witzke