Ingolstadt
Furios: Sebastian Kreyer inszeniert Nikolaj Gogols „Revisor“ im Großen Haus des Stadttheaters

08.12.2019 | Stand 23.09.2023, 9:47 Uhr
Sebastian Kreyer inszeniert Nikolaj Gogols „Revisor“ im Großen Haus des Stadttheaters −Foto: Katharina Fischer

Ingolstadt - Am Ende treten sie auf – die Ratten aus dem Albtraum von Anton Antonowitsch Skwosnik-Dmuchanowski. Zwei - wie in der Erzählung des Stadthauptmanns: „Krochen aus ihrem Loch, schnüffelten in allen Ecken.“ Ratten findet man in der Regel dort, wo sie ausreichend Nahrung, Unterschlupf und Nistmöglichkeiten finden. Wo es dunkel ist – und der Unrat lockt.

Dass die Nager ausgerechnet hier auftauchen, nimmt nicht Wunder. Schließlich hat in dem kleinen Städtchen jeder Dreck am Stecken. Nikolaj Gogols Stück "Der Revisor" spielt im 19. Jahrhundert im zaristischen Russland. In der kleinen Provinzstadt herrscht Alarmstimmung. Denn ein staatlicher Kontrolleur aus der Hauptstadt hat sich angekündigt und die Stadtoberen fürchten, dass ihr System aus Korruption, Willkür, Verlogenheit und Inkompetenz, das den Alltag bestimmt, aufgedeckt und sanktioniert wird. Als Chlestakow, ein unbedeutender Beamter, aber ein rechter Aufschneider, die Stadt besucht, wollen Dobtschinski und Bobtschinski ihn als Revisor identi­fiziert haben. Prompt überbieten sich die Honoratioren der Stadt in Gunstbezeugungen. Doch Chlestakow durchschaut sie rasch. Schamlos nimmt er das Bestechungsgeld, macht sich an Frau und Tochter des Stadthauptmanns heran und nimmt Reißaus, bevor der Schwindel auffliegt und der echte Revisor vor der Tür steht.

Regisseur Sebastian Kreyer hat das Stück aus dem Jahr 1835 als hintersinnige Gesellschaftskomödie und scharfsinnigen Kommentar zur Gegenwart inszeniert. Die Premiere am Samstagabend im Großen Haus wurde mit erstaunlich verhaltenem Applaus bedacht.

Dabei geht Sebastian Kreyer mit unglaublicher Präzision ans Werk. Die Missverständnisse in Gogols Verwechslungskomödie liegen von Beginn an klar auf der Hand. Gerade aus dem immerwährenden Scheitern und besser Scheitern der Figuren erwächst die Komik. Da sind auf der einen Seite die Mächtigen und Karrieristen, die sich durch Amtsmissbrauch ein eigenes funktionierendes Ordnungssystem geschaffen haben und Korruption als Schmiermittel der Gesellschaft verstehen. Da ist auf der anderen Seite der gelangweilte Luftikus und Prahlhans, der sich in Musik, Politik, Militär, Literatur in Spitzenpositionen fabuliert. Ein wahrer Lügenbaron. Münchhausen? Ja, klar, den hat er auch erfunden. Und so inszeniert der Regisseur kurzerhand einen neuen Ritt auf der Kanonenkugel. Wie weiland Hans Albers fliegt nun Sascha Römisch über Ingolstadt – und legt eine Bruchlandung genau am Theater hin. Was für ein Spaß!

Keine der Figuren hat Gogol irgendwie sympathisch gezeichnet. Aber Kreyer gibt sie nicht einfach der Schadenfreude des Publikums preis, sondern führt sie uns als einen Art verzerrten Spiegel vor – einzeln und als Gruppe. In ihrer Unterwürfigkeit und ihrem Größenwahn, als Denunzianten und Opportunisten. Ein schräges, aber auch sehr menschliches Panoptikum. Hier geht es nicht nur um Macht und Machterhalt, sondern auch Wahrheit und Lüge, um Fake News und (Selbst)Inszenierung. Wie dünn dabei die Grenze zwischen Tragödie und Komödie ist, zeigt Kreyer so hellsichtig wie unterhaltsam.

Und er hat dafür ein vortreffliches Ensemble zur Verfügung: Allen voran Sascha Römisch als Stadthauptmann, der zu Beginn noch so selbstherrlich auftritt und mehr und mehr in eine existenzielle Krise stürzt. Umwerfend ist dieses Spiel, sehr akkurat, sehr facettenreich. Vor allem in Kombination mit den anderen Honoratioren: Richard Putzinger als Schulinspektor, Matthias Zajgier als Richter, Peter Reisser als Kurator frommer Einrichtungen und Ulrich Kielhorn in gleich acht verschiedenen Rollen (samt „Avatarowski“). Dazu kommen Olaf Danner und Theresa Weihmayr als clowneskes Beamten-Duo Bobtschinski und Dobtschinksi. Wie sie alle herumdrucksen, sich anbiedern, winden und erklären, wie schnell sie Allianzen bilden und auflösen, das ist virtuos und herrlich anzusehen. Gier und Dummheit bilden einfach ein ideales Paar. Teresa Trauth und Sarah Schulze-Tenberger komplettieren diese wahrlich lachhafte Provinzgesellschaft mit Hang zur Outriertheit und übermäßiger Sangeslust. Philip Lemke als vermeintlicher Revisor Chlestakow ist eher ein Spieler, ein Abzocker. Ob das nun Karten oder (Frauen)Herzen sind. Oder die Bestechungsgelder irgendwelcher Provinzler. Und das färbt auch auf seinen Diener (Martin Valdeig) ab.

Ausstatterin Lena Thelen hat viel Raum gelassen: Die große rückwärtige Leinwand für die Videoprojektionen ist ein bisschen schief und ramponiert – und verrät schon auf den ersten Blick, dass in dem Städtchen längst etwas in Schieflage geraten ist. Es gibt einen riesigen Teppich, unter den das eine oder andere gekehrt wird, ein Gartentor, ein Springbrunnen im Zentrum, ein absenkbares Zimmer, eine Auftrittstür, die davon erzählt, wie sehr hier alles Theater ist. Regisseur Sebastian Kreyer arbeitet zeichenhaft, mit Bild- und Wortwitz, mit Atmosphären, surrealer Videokunst und Sounds (Valerij Lisac) und feinen Bewegungschoreografien. Wie alles ineinandergreift, ist klug gedacht und perfekt gemacht. Und wenn sich am Ende – nach zweieinhalb Stunden - der wahre Revisor ankündigt, würde man schon gern wissen, welche Lehre die russischen Kleinstädter aus dem Fall Chlestakow gezogen haben. Vermutlich keine.

 

Anja Witzke