"Es gibt einen Hoffnungsschimmer"

Der Philosoph Julian Nida-Rümelin schlägt eine Exitstrategie zur Corona-Krise vor, die Gesundheit und Ökonomie versöhnt

27.03.2020 | Stand 02.12.2020, 11:39 Uhr
Gespanntes Warten auf die Pandemie, die Krankenhausbetten stehen bereit: Julian Nida-Rümelin ist der Überzeugung, dass die beiden wichtigsten Risikogruppen - die Vorerkrankten und die älteren Menschen - wirksam geschützt werden sollten. Wenn das geschehe, könnte die restliche Bevölkerung fast ohne Risiko zum normalen Leben zurückkehren. −Foto: Carvalho, dpa, privat

Der Philosoph Julian Nida-Rümelin schlägt eine Exitstrategie zur Corona-Krise vor, die Gesundheit und Ökonomie versöhnt.

 

Herr Professor Nida-Rümelin, die Kanzlerin hat die Corona-Krise als die vielleicht größte Herausforderung Deutschlands seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet. Teilen Sie diese Einschätzung?
Julian Nida-Rümelin: 1962 bei der Kuba-Krise stand die Welt kurz vor einer atomaren Auseinandersetzung. Und auch die Wiedervereinigung 1989 war ein gewaltiger Einschnitt. Das waren vielleicht größere Krisen. Dennoch haben wir es jetzt bei Covid-19 mit einer großen Herausforderung zu tun.

Zumindest wird die Herausforderung sehr ernst genommen. Die jetzt getroffenen Maßnahmen sind erheblich. Eigentlich wird ein ganzes Land lahmgelegt und in eine künstliche Wirtschaftskrise geschickt. Ist das gerechtfertigt?
Nida-Rümelin: Bei solchen Epidemien gibt es im Grunde zwei Strategien. Die eine können wir Containment nennen: Sie versucht alles, um ein weiteres Ausbreiten der Epidemie zu verhindern. Zum Beispiel ist es in Afrika gelungen, durch Isolierung der Infizierten die Ausbreitung der Ebola-Infektionen zu stoppen. Die andere Strategie verwenden wir jedes Jahr bei der winterlichen Grippe-Welle: Wir setzen auf Herden-Immunisierung. Die Menschen sollen sich anstecken, werden immun und recht bald ist die Grippe-Epidemie überwunden, weil es immer weniger gibt, die sich noch anstecken können.

Auf welche Strategie setzen derzeit die meisten Länder?
Nida-Rümelin: Nicht, wie man vielleicht annehmen könnte, auf Containment, sondern auf Herden-Immunisierung. Allerdings wird versucht, die Anzahl der Infizierten möglichst langsam anwachsen zu lassen, um die Gesundheitssysteme nicht zu überlasten. Das ist das Vorgehen der Kanzlerin, beraten von führenden Virologen und dem Robert-Koch-Institut.

Das heißt, die Containment-Strategie ist nicht erfolgreich?
Nida-Rümelin: Wenn Containment erfolgreich ist - China behauptet, dass sie damit erfolgreich sind und Südkorea hat auch eine sehr gute Entwicklung: Also, wenn Containment erfolgreich ist, dann bin ich unbedingt dafür, es zu versuchen. Stellen wir uns vor, wir könnten alle Deutschen dazu bringen, drei Wochen lang überhaupt nicht mehr miteinander zu interagieren. Dann wäre die Epidemie gestoppt. Aber klappt das in der Praxis? Die meisten Fachleute, Virologen, Ärzte, sind der Auffassung, dass das nicht mehr gelingen kann in Deutschland. Dafür sei es zu spät.

Wenn wir nun aber den Weg der stark verzögerten Herden-Immunisierung gehen, wird das Opfer der Bevölkerung fast unerträglich.
Nida-Rümelin: Genau. Es wäre unzumutbar 18 Monate lang - so lange wird geschätzt, dass die langsame Herden-Immunisierung der Bevölkerung dauern kann - Maßnahmen durchzuführen, die die Wirtschaft, das soziale und kulturelle Leben weitgehend ersticken würden. Wir könnten am Ende der Krise die Maßnahmen, die wir durchführen wollen, gar nicht mehr verwirklichen, da wir die ökonomische und finanzielle Kraft dann nicht mehr dazu hätten.

Was also ist zu tun?
Nida-Rümelin: Es gibt einen Hoffnungsschimmer. Ein Weg, der die beiden Strategien kombiniert, Containment und Herden-Immunisierung. Diese Kombinationsstrategie beruht auf der Besonderheit von Covid-19: Vermutlich über 90 Prozent der Erkrankungen nehmen einen milden Verlauf, milder als bei einer normalen saisonalen Grippe. Die Menschen bekommen ein wenig Fieber und Husten, sind müde und nach ein paar Tagen ist alles wieder vorbei. Auf der anderen Seite gibt es ganz furchtbare Krankheitsverläufe, man denke nur an Bergamo. In dieser Region ist die "Durchseuchung" - ein furchtbares Wort! - der Gesamtbevölkerung sehr hoch und die Alten sind in hoher Zahl gestorben. Jetzt liegt glücklicherweise eine sehr seriöse Untersuchung der Todesfälle in Süditalien vor. 2003 Fälle mit Covid-19. Das Auffällige ist, dass unter diesen Todesfällen nur 0,8 Prozent ohne Vorerkrankungen waren.

Was verstehen Sie unter Vorerkrankung?
Nida-Rümelin: Ich meine natürlich nicht Schnupfen oder so etwas. Sondern chronische Lungeninsuffizienz, Herzerkrankungen, Diabetes oder Krebs. Daraus folgt: Wenn es gelingen würde, alle Menschen mit Vorerkrankungen verlässlich vor einer Infektion zu schützen, sie von der übrigen Bevölkerung abzuschirmen, dann würde die Todesrate um den Faktor Einhundert sinken - selbst wenn alle anderen Menschen wieder zu einer normalen Lebensweise zurückkehrten. Dazu gibt es noch eine weitere interessante Zahl, die merkwürdigerweise ebenfalls 0,8 ist: Sie beziffert die Anzahl der Todesfälle bei Patienten unter dem Alter von 50. Das heißt, Infizierte unter 50 und ohne Vorerkrankung haben nahezu kein Risiko zu Tode zu kommen.

 

Die puren Daten sind beeindruckend. Aber nach Ihrer These müsste man die beiden Risikogruppen, die alten und die bereits erkrankten Menschen wirkungsvoll vom Rest der Bevölkerung trennen. Ist das gesellschaftlich überhaupt durchführbar?
Nida-Rümelin: Ich will ja keinen brutalen Schnitt machen. Ich will nur einen Weg weisen zu einer möglichen Exitstrategie. Hier geht es auch nicht um die falsche Alternative zwischen Ökonomie und Gesundheit. Nein. Gerade diese Cocooning-Strategie, bei der die Alten und Kranken konsequent abgeschirmt würden, würde Menschenleben retten und gleichzeitig der ökonomischen Situation des Landes guttun. Also stellen wir uns einmal vor, es wären schon 20 Prozent der deutschen Bevölkerung durch Infektionen immunisiert. Unter diesen wären sehr viele gesunde und junge Menschen. Diese haben es kaum bemerkt, hatten eine kleine Erkältung und sind damit nicht einmal zum Arzt gegangen. Diese Gruppe ist bereits immun. Wenn diese Gruppe noch etwas anwüchse, haben wir viele Menschen, die völlig problemlos die Versorgung der älteren und kranken Bevölkerung übernehmen könnte. Ohne jedes Risiko. Jedenfalls schätzen das Virologen so ein.

Trotzdem: Wie könnte das ganz praktisch aussehen?
Nida-Rümelin: Nehmen wir meinen Schwiegervater. Er ist fast 90 und unglaublich rüstig und aktiv. Er ist jetzt so vernünftig, bleibt zu Hause und schreibt sein Buch. Ist er irgendeiner Gefährdung ausgesetzt? Nein. Die Enkel besuchen ihn genauso wenig wie wir. Wir bringen ihm allenfalls Essen vorbei, stellen es ihm vor die Haustür. Wir stellen auch soziale Nähe her: Wir können telefonieren, skypen usw. Distanziert sind wir nur räumlich.

Kann Deutschland überhaupt als einzelnes Land so einen Sonderweg gehen, wie Sie ihn vorschlagen?
Nida-Rümelin: Die Berechnungen sind eindeutig: Wir werden eine deutlich geringere Todesrate haben als bei einer gewöhnlichen Grippe, wenn Cocooning gelingt. Es wird sich dann möglicherweise herausstellen, dass wir erfolgreicher gegen die Epidemie vorgehen als die Länder, die eine unspezifische Isolierungsstrategie anwenden. Dann könnte unser Weg Schule machen und Nachahmer finden. Besser wäre es allerdings, die Europäische Union würde sich auf eine solche Strategie bald einigen.

Die Epidemie wird vermutlich unser Land verändern. Was wird anders sein, wenn die Pandemie irgendwann überwunden ist? Werden die Universitäten dann noch so arbeiten wie bisher, ebenso die Schulen. Wird das Arbeitsleben möglicherweise viel mehr im Homeoffice stattfinden als bisher?
Nida-Rümelin: Solche Spekulationen sind durchaus reizvoll. Meine Lieblingsspekulation ist, dass sich herausstellen könnte, dass wir mit weniger Mobilität auskommen. Das würde auch dem Klima guttun. Aber das ist extrem spekulativ. Wenn die Krise schnell vorüber ist, wird sie kaum Auswirkungen auf unsere Lebensweise haben. Wenn sie sich länger hinzieht mit neuen Wellen von Infektionen, die nicht gut bewältigt werden, dann kann das sehr negative Konsequenzen haben. Das Prinzip der sozialen Distanz könnte konstitutiv für unsere Gesellschaft werden.

Das Interview führte Jesko Schulze-Reimpell.

ZUR PERSON
Julian Nida-Rümelin (65) lehrt an der Ludwig-Maximilians-Universität München Philosophie und politische Theorie. Er war Kulturstaatsminister im ersten Kabinett Schröder und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie. Zuletzt hat der das Buch "Die gefährdete Rationalität. Ein politischer Traktat", erschienen bei Edition Körber, veröffentlicht.